Die letzten Blätter unserer Säulenobstbäume wehren sich verzweifelt gegen den Wind, der über unseren Hof fegt. Ich kann das von meinem Küchenfenster aus nur sehen, weil unser Nachbar Licht im Fenster gegenüber brennen hat. Ich möchte den Moment kurz festhalten.
Den Lauf der Natur, der so zuverlässig kommt. Diesen Vorgang, der so klein und unscheinbar ist und doch so gewaltig. Und so bedeutungsvoll. Denn ohne den Wind, der die Blätter fallen lässt, ist nächstes Jahr kein Platz für neue Blüten. Ohne sie gibt es kein neues Obst. Um mich rum ist es still – nur ganz kurz. Dann schallt ein Mama, Mama, Mama durchs Haus. Das siebte Mama, Mama, Mama an diesem Abend.
Es ist dieser Moment, der zuverlässig wie der Herbstwind jeden Abend kommt. Dieser Moment, an dem unsere Bedürfnisse gegeneinander crashen. Mein Bedürfnis nach einer ganz kurzen Pause. Danach, in Ruhe den Tisch abräumen zu dürfen und dabei kurz den Blättern zusehen zu können. Das Bedürfnis der Kinder, von mir unterstützt zu werden, bei dem, was nun alles so nötig ist, steht dem entgegen. Es ist nicht so, dass sie mich tatsächlich zum Waschen und Umziehen brauchen würden. Und doch benötigen sie mich. Weil der Kater auf den Handtüchern liegt. Weil ihnen gerade eingefallen ist, dass sie noch eine Unterschrift brauchen. Weil sie mir jetzt unbedingt erzählen müssen, was sie den ganzen Tag vergessen haben. Weil sie schon fertig sind und nicht gern oben allein auf mich warten möchten.
Doch eigentlich geht es dabei weder um den Kater, noch um die leidigen Zettel und auch gar nicht mal so um den Inhalt ihrer Geschichten. Es geht vielmehr darum, den Tag loszulassen. Das abendliche Waschen und Umziehen bildet den Übergang von der Abendphase hin zur Nachtphase. Für die Kinder beginnt die Zeit des Tages, die sie allein in ihren Betten verbringen. Die Zeit, in der sie loslassen müssen. Sie müssen sich der Nacht anvertrauen. Dem Schlaf. Der Dämmerung. Sie müssen darauf vertrauen, dass morgen noch alles so ist, wie es heute war. Dass wir morgen alle wieder aufwachen. Dass sie noch da sind. Dass wir noch da sind. Dass die Welt sich weiterdreht. Sie müssen akzeptieren, dass dieser Tag vorbei ist – gelebt und erlebt und dass nichts mehr an ihm verändert oder rückgängig gemacht werden kann. Eine Tatsache, für die sie noch keine Worte haben – und die sie dennoch so viel bewusster wahrnehmen, als wir selbst.
Ihr Mama, Mama, Mama ist nichts als die Möglichkeit, in dieser Aufgabe vertrauensvolle Unterstützung zu finden. Ihr Mama. Mama, Mama ist nichts anderes als mein “die Blätter anstarren”. Das Halt finden in etwas, was einfach da ist. Was Sicherheit verspricht und Beständigkeit.
Und manchmal gibt es keine einfachen Lösungen, wenn Bedürfnisse crashen. Manchmal muss man hinnehmen, dass das so ist und dass man immer nur nach Tagesform entscheiden kann, wie viele Mama, Mama, Mamas das Blätter anschauen und Tisch abräumen unterbrechen dürfen. Wahrscheinlich werden es in meinem Fall noch viele sein. Die Abendbedürfnisse – so klein und unscheinbar und doch so gewaltig. Und so bedeutungsvoll.