Letzte Woche habe ich mich in meiner Kolumne in der Eule weit aus dem Fenster gelehnt. Ich habe ein stärkeres Miteinander von evangelikalen und liberalen Menschen innerhalb der Landeskirche gefordert. Das brachte mir viel Zustimmung ein – und auch jede Menge Kritik. Viele Menschen, die bei mir kommentiert oder mir geschrieben haben, konnten sehr anschaulich begründen, warum ihnen eine stärkere Einbindung von evangelikal glaubenden Christen, beispielsweise in der Jugendarbeit, Unwohlsein bereitet. Die persönlichen Erlebnisse, die sie mir schilderten, handelten oft von einer Kindheit und Jugend in sehr engen Glaubenswelten. Toxische Botschaften, wie die eigene angeborene Sündhaftigkeit, die persönliche Schuld, mit der man jeden Morgen aufwachte, obwohl man doch nur ein ganz normaler Teenager war (ein recht braver nach weltlichen Maßstäben dazu). Der Druck, emotionale Hochgefühle nur im religiösen Kontext und bitte nirgendwo anders zu finden, all das hat ihnen zugesetzt. Spuren dieser Enge finden sich in ihrer Seele bis heute. Ich habe diese Berichte teilweise mit Wut und Entsetzen gelesen. Und ich habe immer wieder gedacht, dass das genau die Dinge sind, die ich nicht im Sinn hatte, als ich meine Kolumne schrieb. Ich wünsche mir Gemeinden, die eine christliche Erziehung vorlebt, die in die Weite führt.
Wenn wir schon von Schuld reden, dann lasst uns mal nicht auf die herbeifantasierte Schuld der Jugendlichen schauen, sondern auf die der Menschen, die Jesus hier aus Waffe missbraucht haben. Lasst uns mal auf die Schuld derjenigen schauen, die jungen Menschen eine wichtige Ressource für ihr Leben – einen gesunden Glauben – genommen haben. Lasst uns mal von der Schuld reden, Kinder dadurch von Jesus weggebracht zu haben. Und dann lasst uns darüber reden, wie wir zukünftig nicht mehr so viele verlieren.
Eine christliche Erziehung – oder eine christliche Begleitung von Heranwachsenden, sei es im familiären oder im gemeindlichen Kontext, in christlichen Kindertagesstätten oder Schulen, kann nur gelingen, wenn sie Kindern und Jugendlichen spirituelle Erfahrungsräume und lebendiges Glaubenserleben ermöglicht und sie dabei in die Weite führt.
Was bedeutet das: In die Weite führen? Zuerst einmal, dass sie einfach sie selbst sein können. Dass sie willkommen und angenommen sind, so wie sie sind. Dass man sich über sie freut, einfach nur, weil sie da sind. Weil Gott sich über sie freut! Dazu gehört, dass sie sich entwickeln, dass sie sexuelle Bedürfnisse und Fantasien haben, dass sie nicht alle auf die gleiche Weise lieben. Es mag bei manchen dazugehören, dass sie sich hinterfragen und uns als Gesellschaft dadurch vor Augen führen, dass nicht alles in unsere althergebrachten Schemen von männlich und weiblich oder von monogamen Zweierbeziehungen passt. Das kann uns gegen den Strich bürsten – aber das gibt uns noch lange nicht das Recht, es mit der Bibel als Waffe niederzuprügeln!
Aber es bedeutet auch viel kleinere, alltägliche Dinge: Es bedeutet, dass jede:r der mit ihnen zutun hat akzeptiert, dass emotionale Hochgefühle genauso an der Konsole, beim Finale der Champions League oder auf einem Konzert ganz ohne Lobpreisband entstehen können. Und ganz wichtig: Entstehen dürfen. Und nicht nur im Kontext der engen Glaubenswelt. Das gehört zum Aufwachsen einfach dazu. Was hätte ich in meinem Leben verpasst, wenn ich nicht auch mal vor der Bühne einer Boygroup in Ektase geraten wäre, vor dem Schlafen nicht mein Jürgen Klinsmann Poster geküsst hätte, oder das Schlafen hätte ausfallen lassen, um einen Vampir-Roman zu lesen oder die Nacht durchzutanzen?
Wie viel Lebendigkeit hätte man mir genommen, wenn es für meine erwachende Sexualität keinen Raum gegeben hätte? Welche Irrwege hätte ich im Leben genommen, wenn ich keine Eltern gehabt hätte, denen bewusst war, dass sie mir hier vertrauen müssen – mit denen ich nicht nur über Verhütung habe reden können, sondern die mir Verhütungsmittel durch Beratung und finanzielle Unterstützung zugänglich gemacht haben? Wie würde meine Ehe heute aussehen, wenn ich nicht die Erfahrung mehrerer intensiver Beziehungen mit eingebracht hätte?
Wie viel weniger bunt wäre meine Kindheit gewesen, ohne Christkind, Weihnachtsmann und Osterhase oder Geschichten aus magischen Welten und von fantastischen Wesen? Sie lagen zusammen mit meiner Kinderbibel auf meinem Nachttisch – und ich hatte das Glück, genügend Menschen um mich herum zu haben, die mit denen Geschichten meine Fantasie angeregt und mit der Geschichte mein Leben reich gemacht haben.
Und ja – wie ich in der kontroversen Kolumne beschrieben habe – es hat auch was gefehlt. Ein Ort, der Jesus-Begeisterung geweckt hätte und ein lebendiges Glaubenserleben außerhalb meines Elternhauses, wäre schön gewesen. Aber nicht um jeden Preis. Und um jeden Preis möchte ich das auch heute nicht für meine Kinder. Allerdings bin ich der Meinung, dass es auch gar nicht nötig ist, den Preis der Enge für die Nähe zu Jesus zu zahlen. Nicht, wenn man sich darüber im Klaren ist, dass christliche Erziehung nur gelingen kann, wenn man Menschen in die Weite führt.
Im Weg steht dort nicht, wie manche behaupten, die Bibel. Es ist nicht so, dass es ein festgeschriebenes Recht auf Unterdrückung, Beschämung und Kleinmacherei gibt, das aus Gottes Geschichte mit den Menschen entspringt. Das, was all die problematischen Auswüchse von Frömmigkeit mit sich bringt, ist menschengemacht. A man made disaster. Sie entsprangen dem Wunsch, die Kontrolle zu behalten und der Vorstellung, dass die eigene Relevanz von der gefühlten Erlösungsbedürftigkeit derer abhängt, für die man verantwortlich ist.
Schon heute zeigen viele Beispiele überall in der Welt, dass intensive Spiritualität, persönliche Jesus-Erfahrungen, Lobpreis und Gott als Mittelpunkt eines Gemeindelebens und Weite, Akzeptanz, Verständnis und Weltzugewandtheit sich nicht ausschließen müssen. Ich glaube fest daran, dass wir für Jugendliche mehr haben, als die Verengung ihrer Lebenswelt einerseits und Beliebigkeit des Glaubenslebens andererseits.
Damit dies gelingen kann, müssen letztlich viele Erwachsene sich bewegen. Eltern, Verantwortliche in Gemeinden und alle anderen, die Kinder und Jugendliche für Jesus begeistern wollen, müssen sich überlegen, wo ihre eigene Enge herkommt. Welche Ängste werden angetriggert, wenn man den Fantasieroman voller Hexen und Vampire vom Nachttisch der Teenager nehmen will? Gibt es wirklich nur die eine Antwort auf queere Menschen, die man uns irgendwann einmal im Namen der Bibel eingedrillt hat? Kann das wirklich sein, dass sie diesem wunderschönen göttlichen Wesen, an das wir glauben, ein Dorn im Auge sind? Was spricht dagegen? Ist Gott nicht auch auf dem Konzert eines Deutsch-Rappers, im Fußballstadion oder auf der Tanzfläche eines Clubs?
Ich denke eine Mammut-Aufgabe der christlichen Erziehung heute ist es, sich mit der Welt und seinem Glauben neu auseinanderzusetzen, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen und die eigene Sicht auf die Dinge zu weiten. Ich verstehe, dass das bei vielen erst einmal Angst auslöst. Aber anders wird es nicht gehen.
Ich feiere all die Eltern, die das längst tun. Ich hatte das Privileg, einige von ihnen bereits auf ihrem Weg in meiner Praxis begleiten zu dürfen. Ich konnte miterleben, wie eigenes Erleben reflektiert wurde. Wie Mütter und Väter vorsichtig hinter Ängste geschaut haben und wie sie – im Rahmen ihrer Werte und dessen, was sie für sich und vor Gott gut verantworten können – mehr Freiheit gewagt haben, entspannter erziehen und ihre Beziehung zu ihren Heranwachsenden verbessern konnten. Was für ein Gewinn für alle!