Vor einer Weile hat mich eine alte Bekannte besucht. Sie klopfte Ende November zaghaft an meine Tür und bat um Einlass. Eigentlich wollte ich ihr selbige Tür direkt wieder vor der Nase zuknallen, denn das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, habe ich in keiner guten Erinnerung. Es ist 17 Jahre her, dass sie zuletzt bei mir war und damals hat sie mich den letzten Nerv gekostet. Alles drehte sich um sie, von morgens bis abends. Sie hätte mir beinah meine Abschlussprüfungen versaut und sogar unsere Hochzeit wollte sie mir madig machen. Ich wollte sie damals schon hochkantig rauswerfen, doch leider weigerte sie sich monatelang, wieder zu gehen.
Ihr Name ist Urtikaria. Und weil sie bei mir damals so ein lästiger Dauergast war, trägt sie den Beinamen “chronische”. Ihr unverkennbares Markenzeichen sind juckende Quaddeln, die sich willkürlich über den ganzen Körper verteilen. Aber sie hat auch Gesichtsödeme im Angebot, mit denen sie Lippen, Augen oder sogar die Zunge dick anschwellen lässt als hätte einen ein ganzer Schwarm Bienen gestochen. In ihrer Extremausprägung, den Ödemen im Halsbereich, ist sie sogar ein bisschen lebensgefährlich. Du siehst also, sie ist wirklich niemand, den ich gern um mich habe.
Als sie da eines kalten Novembermorgens also so vor meiner Haustür rumlungerte, habe ich sie erst einmal ignoriert. Die wird schon wieder gehen, die blöde Kuh, habe ich mir gedacht. Immerhin, das wusste ich von damals, wird sie penetranter, je mehr Beachtung man ihr schenkt. Sie liebt stressige und anstrengende Zeiten. Sie sind, zumindest was meine Sorte von ihr angeht, ihre Daseinsberechtigung. Da sie selbst durch ihre Anwesenheit Stress und negative Gefühle zudem ins Unermessliche steigert, verschafft sie sich ein eigenes Biotop, in dem sie bequem überleben und sich sogar vermehren kann, wenn man sie lässt. Nicht mal ein Wort verliere ich über sie, dachte ich mir, keinen Funken Aufmerksamkeit bekommt sie.
Doch leider ließ sich meine alte Bekannte nicht abwimmeln. Sie grüßte mich jeden Morgen verlässlich, kaum hatte ich die Augen ganz aufgemacht. Über den Tag verzog sie sich dann meistens wieder, um spätestens am Abend, manchmal aber auch schon übern Mittag, wieder voll zu zu schlagen. Nachdem sie anfangs recht harmlos daherkam, packte sie bald ihren Werkzeugkoffer aus und zeigte, dass sie all das, was mich vor 17 Jahren hat von Arztpraxis zu Arztpraxis laufen lassen, immer noch drauf hat. Missmutig saß ich also eines Tages im Wartezimmer meiner Arztpraxis und ging mit einem Rezept für starke Medikamente wieder raus. Meine Urtikaria, das hatte ich vor 17 Jahren gelernt, lässt sich nämlich nicht von 0815-Türstehern rauswerfen.
Bevor ich das Rezept in den Händen hielt, hatte ich aber schon ein paar Wochen das getan, was man so tut, wenn eine Urtikaria zu Besuch ist. Ich hatte mir aufgeschrieben, wann sie kommt, was ich getan habe und was gegessen. Und neben Urtikarias Hauptvorliebe, dem Stress, kristallisierte sich schnell heraus, dass es Lebensmittel gibt, die sie echt gern mag – und davon eine ganze Menge. Alle haben eins gemeinsam: sie sind sehr histaminhaltig.
Die Erkenntnis, dass meine ungebetene Besucherin eine besondere Vorliebe für Rotwein, lang gereiften Käse, Hefeprodukte und Tomatensoßen hat, ist für mich keine ganz neue. Auch damals hat sie sich daran gelabt. Allein hatte ich in dieser Zeit zu wenig Alternativen, und nicht die Kraft auszuprobieren, ob histaminarme Ernährung sie vergraulen würde. Nach einiger Recherche im Internet und der Feststellung, dass es richtig leckere Pizzarezepte ohne Quaddelgarantie gibt, habe ich beschlossen, dass ich der guten Urtikaria eine Weile ihren Lieblingsnährstoff einziehen werde.
Seit ich das tue und außerdem ein paar Türsteher in Form von hoch dosierten Antihistaminika Wache halten, sehe ich sie nur noch selten. Manchmal grüßt sie vorsichtig vom Gartenzaun, verzieht sich dann aber schnell wieder, ohne größeren Schaden anzurichten. Ich bin fasziniert davon, wie gut das geht und muss sagen, auch wenn ich Gorgonzola und Tomaten vermisse, lebt es sich histaminarm ganz passabel.
Und mittlerweile habe ich gelernt, ihr gegenüber etwas nachsichtiger zu sein. Denn ich glaube, sie kommt eigentlich immer nur vorbei, um mir wichtige Nachrichten zu überbringen. Vor 17 Jahren wollte sie mir sagen, dass mich die Kombination aus Abschlussprüfungen, Hochzeitsvorbereitungen und unsicherer Zukunft komplett überfordert und dass ich aufhören muss, alles auf einmal zu wollen. Ja, und dass ich anfangen muss zu vertrauen. Ich bin sicher, sie wollte mir auch sagen, dass es eine ganz schlechte Idee ist, es allen recht machen zu wollen und dass ich mich selbst ein bisschen ernster nehmen darf.
Ich ahne auch, was sie mir heute sagen will: Nämlich, dass ich aufhören muss so zu tun, als hätte es die letzten, anstrengenden Jahre nicht gegeben. Sie möchte mir zeigen, dass ich unglaublich viel geleistet habe und weit über meine Grenzen gegangen bin. Bücher schreiben, Kurse entwickeln, Kinder durch zwei Lockdowns coachen, die Familie in schwierigen Zeiten zusammenhalten und dann noch dieses ganze Jahr 2022, mit persönlichen Sorgen, Ängsten und Krisen, die mich bis ins Mark getroffen und alles von mir abverlangt haben. Sie möchte, dass ich aufhöre so zu leben, als hätte ich letztes Jahr nicht so manchen Vormittag weinend auf der Couch gesessen und gedacht, ich könnte meinen Job unter diesen Umständen nicht mehr machen. Oder als hätte ich das alles nicht nur überstanden, weil ich diese eine Freundin hatte, der ich all das immer wieder und in epischer Länge erzählen durfte, die nie müde wurde und immer noch einen guten Gedanken hatte.
Sie möchte, dass ich mich damit auseinandersetze, was all das mit mir gemacht hat. Ich glaube, sie will mir sagen, dass ich anfangen soll, gut zu mir zu sein, damit meine Akkus sich langsam wieder füllen können. Sie möchte mir mitteilen, dass ich mir genau überlegen soll wo und an wen ich meine Energie verschwende und wo ich loslassen muss. Sie rät mir, mich in der Mitte derer aufzuhalten, die mir gut tun und die mir zeigen, dass sie mich lieb haben, so wie ich bin, statt die Wertschätzung von Menschen zu suchen, die einfach keine für mich übrig haben oder nur bei schönem Wetter und wenn ich sie bauchpinsele meine Freunde sein möchten.
Slow down, you’re doing fine, you can’t be anything you want before your time, singt sie leise in mein Ohr (ja, sie ist Billy Joel Fan – wir haben also viel gemeinsam). Und auch wenn ich sie wirklich nicht gut um mich haben kann, empfinde ich mittlerweile ein bisschen Dankbarkeit für ihren Besuch, denn sie hat mir beigebracht, wieder etwas mehr auf mich zu achten. Und wer weiß, wer statt ihr vorbeigekommen wäre, wenn ich meine Grenzen weiterhin so maßlos übertreten hätte.