Spielbälle zwischen den Fronten
Ja, es wurde ab und zu über Kinder und Jugendliche geredet in diesen mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie. Allerdings meist genau dann, wenn es für Verantwortliche in irgendeiner Weise nützlich war. Am Anfang waren sie mögliche Treiber der Virusinfektionen. Schulen und Kitas wurden daher geschlossen und sämtliche Freizeitaktivitäten fielen weg. Zwar hieß es in der ersten Welle, dass sie selbst so gut wie nie schwer erkranken, aber zum Schutz vulnerabler Gruppen sollten sie zu Hause bleiben.
Schul- und Kitaschließungen belasten
Die Schul- und Kitaschließungen wurden vielerorts schnell zu einer massiven Belastung für Familien. Thematisiert wurde das allerdings vor allen Dingen dann, wenn es irgendjemandem politisch nutzte. So wurden Bildungsnachteile und häusliche Gewalt schnell von denen ins Feld geführt, die den Lockdown und insbesondere die Schulschließungen ohnehin kritisch sahen. Das, was Familien in Wirklichkeit arg zu schaffen gemacht hatte, wurde allerdings nicht angesprochen: Nur wenige Schulen haben es schnell geschafft, sich auf diese Situation einzustellen und Onlineunterricht zu organisieren, der seinen Namen verdient hätte. Meistens war es so, dass die Beschulung der Kinder und Jugendlichen an den Eltern hängen blieb – wenn diese die Möglichkeiten dazu hatten. Wenn nicht hatten die betreffenden Schülerinnen und Schüler leider Pech. Stress, Konflikte und jede Menge Frust waren hier vorprogrammiert.
Doch in manchen Familien blieb es nicht dabei: Situationen eskalierten. Es kam zu Gewalt, Beziehungsabbrüchen, psychischen Problemen, massivem Leistungsabfall in der Schule.
Obendrauf kam oft, dass Eltern für die schwierigen Aufgaben, die sie zu übernehmen hatten, natürlich nicht freigestellt waren. Neben Kinderbetreuung und Homeschooling erwartete man von ihnen weiterhin, dass sie ihren Job machten. Gerade Mütter haben aus diesem Grund in den letzten zwei Jahren ihre Erwerbstätigkeit stark reduziert oder sogar ganz aufgegeben.
Erleichterungen, die keine waren
Nach mehreren Lockdowns und Phasen der Schul- und Kitaschließung entdeckte die Politik scheinbar das Leid der Kinder und Jugendlichen und letztlich wurde das Infektionsschutzgesetz so verändert, dass pädagogische Einrichtungen nicht mehr ohne Weiteres geschlossen werden konnten. Doch wer glaubt, dass die junge Generation damit nun endlich in den Fokus gerückt wäre, liegt falsch. Denn nun kamen mehrere andere Faktoren zusammen:
Erstens war das Virus durch verschiedene Mutationen nun in einem Stadium, in dem Kinder- und Jugendliche sehr wohl erkranken konnten – und das auch nicht immer nur mild. Schulen und Kitas wurden auf einmal zu dem, was man ihnen anfangs zu unrecht nachgesagt hatten: Treiber der Pandemie. Fortan lebten alle Familien damit, dass ihre Kinder dem Virus – je nach Bundesland und aktueller Regel – mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert waren. Familien erkrankten – nicht alle Familienmitglieder erholten sich so schnell und komplikationslos, wie man das gern hätte. Auch wenn es – auch diese Wahrheit muss gesagt werden – glücklicherweise in den meisten Fällen gut ausging.
Nichts ist normal
Doch nicht nur in Sachen Infektionsschutz war das zurück zur Normalität – die sowieso keine ist – ein weiterer Tiefschlag für viele Familien. Vielmehr wurde hier sichtbar, dass das System nicht auf Kinder und Jugendliche eingestellt ist, denen zwei Jahre Kindheit bzw. Jugend einfach fehlen. Die Erwartung an die Schülerinnen und Schüler lässt sich auf einen einfachen Satz runterbrechen: Funktioniert gefälligst als sei nichts gewesen!
Und nein – es geht hier nicht darum, die Lehrer schlechtzureden, denn diese sind in ebensolcher Weise zum Spielball von Meinungen und Unwissenheit geworden. Auch von ihnen wird ja erwartet, dass sie den Laden am Laufen halten als hätte es die letzten zwei Jahre nicht gegeben. Dabei wird übersehen, dass das überhaupt nicht funktionieren kann. Du kannst nicht Erstklässler sein, ohne dass du je ein richtiger Vorschüler warst, mit Ausflügen für Große, Kitaübernachtungen, Schuleingangsgesprächen und Untersuchungen, spielerischem Lernen in neuen Gruppen und erstem Kontakt zu zukünftigen Lehrern. Du kannst kein Zweitklässler sein, ohne dass du je richtig Erstklässler warst. Du kannst kein Siebtklässler werden, ohne dass du das System einer weiterführenden Schule in der 5. und 6. Klasse kennengelernt hast. Du wirst kein Abiturient ohne einen anständigen Übergang aus der Mittelstufe.
Stimmt nicht, wirst du jetzt vielleicht rufen. Sie sind ja fast alle genau da und machen ihre Sache gut. Ja. Da hast du Recht. Sie sind da und viele fallen tatsächlich nicht auf. Kinder und Jugendliche sind anpassungsfähig. Sie sind glücklicherweise so geschaffen, dass sie in noch so unwirklichen Situationen ihren Weg finden. Die Menschheit wäre nicht zur Erfolgsgeschichte geworden, wenn es anders wäre. Und doch fehlt etwas und dieses Fehlen fällt denen auf, die genau hinschauen. Den Eltern und Lehrern, den Erziehern und Jugendarbeitern, den Vereinstrainern und Kindergottesdienstmitarbeitern. Es fehlt ein Stück Sozialisation. Manchmal die in die Jugend rein – vom Kind zum(Pre-)Teen. Manchmal die vom Kitakind zum Schüler. Manchmal die vom minderjährigen zum erwachsenen Schüler, der sich Entschuldigungen selbst schreiben darf und auf Klassenfahrten so lange wegbleiben kann, wie er will.
Es fehlt an unsichtbaren Erfahrungen
Es fehlt das Gefühl dafür, seinen Tag auf einer weiterführenden Schule zu planen, mit Mathe am Montag und am Mittwoch und dem Turnbeutel, den man nur freitags braucht. Mit Frau Bähr als Klassenlehrerin, die aber nur noch zwei deiner Fächer unterrichtet und den fünf bis sieben anderen Menschen, die dir auf einmal etwas beibringen. Mit dem Schließfach in der Schule und dem Nachdenken darüber, welche Bücher du heute mit nach Hause nehmen musst. Mit dem Vokaltest, an den dich keiner mehr täglich erinnert und dem Inhaltsverzeichnis der Biomappe, das du selbst pflegen musst.
Es fehlt dem Kitakind die langsame Eingewöhnung und dem Vorschulkind das gruppenübergreifende Spielen. Es fehlt das Körpergefühl aus dem Eltern-Kind Turnen und das gemeinsame Singen im Chor. Es fehlt das Seepferdchen und das Dranbleiben am Schwimmen hinterher.
Kein öffentliches Bewusstsein
Und eins fehlt am meisten: Das öffentliche Bewusstsein für all diese Dinge und die sich daraus ableitenden Handlungen. Denn eigentlich müssten wir Kindern und Jugendlichen nun die Gelegenheit geben, all das Nachzuholen. Das würde alle entlasten. Sie selbst, die Lehrer und Erzieher, die Eltern und die Vereine, die gern wieder Nachwuchs hätten. Stattdessen tun wir weiter das, was wir die ganze Pandemie lang taten: Erwarten, dass sie funktionieren. Doch gerade Lehrerinnen und Lehrern können im Moment ein Lied davon singen, dass ihre SuS genau das in größerer Zahl nicht mehr tun. Immer mehr Beratungen in meiner Praxis zeigen mir, dass es oft ganze Klassen gibt, die kaum noch normal beschulbar sind.
Hilfe ist keine in Sicht. Das Thema scheint gegessen und vergessen. Unsere Kinder und Jugendlichen können frühestens dann wieder auf ein bisschen Aufmerksamkeit hoffen, wenn irgendjemand sie als Ass aus dem Ärmel zieht, um eine wie auch immer geartete politische Forderung damit zu begründen. Da die Welt aber längst in einer neuen Krise angekommen ist, glaube ich nicht, dass das passieren wird.