Darüber, wer ein Kind in den ersten Lebensjahren am besten begleiten kann, wird immer wieder emotional diskutiert. Immer wieder geht es um die Frage, welche Rolle Mütter dabei spielen. Die einen sagen, dass sie der allein entscheidende Faktor für eine sichere Bindung sind. Andere finden die Mutterrolle völlig überschätzt und machen die These stark, dass jeder primäre Bindungsperson für ein Baby sein kann. In diesem Artikel möchte ich mir dieses Thema mit dir zusammen mal etwas ausführlicher ansehen.
Warum überhaupt so ein Hype um Bindung
Über Bindung wird viel gesprochen, wenn es um die Frage des Aufwachsens von Kindern geht. Das ist zunächst einmal eine gute Nachricht, denn lange Zeit spielte dieses Thema nur eine sehr vernachlässigte Rolle im Umgang mit kleinen Menschen. Dabei hat das Bindungssystem tatsächlich eine sehr wichtige Funktion. Menschen, die sicher gebunden sind, tun sich im Leben leichter. Das gilt für alle Bereiche, vom Lernen, über Beziehungen, Stressbewältigung, die Sicht auf die Welt und andere Menschen, bis hin zum Umgang mit Tiefschlägen im Leben (Resilienz). Es ist also gut für eine ganze Gesellschaft, sich mit der Frage zu befassen, wie Kinder sicher gebunden ins Leben wachsen können.
Wie entsteht eine sichere Bindung
Wenn kleine Menschen auf die Welt kommen, sind sie sehr unfertig. Sie sind darauf angewiesen, dass jemand sie verlässlich versorgt, ihnen Nahrung gibt, sie beschützt, ihnen Sicherheit und Nähe schenkt und sie tröstet, wenn sie sich nicht wohlfühlen. Die kleinen Menschen, die wir auf die Welt bringen, sind im Grunde Steinzeitbabys. Sie haben immer noch dasselbe Betriebssystem wie unsere nicht sesshaften Vorfahren. Gott hat sich dafür entschieden, ihnen kein neues aufzuspielen, das zum Leben im 21. Jahrhundert passt und ich denke, er hatte seine Gründe.
Das bedeutet für uns, dass unsere Kinder sich sicher und geborgen fühlen müssen. Wenn sie allein irgendwo liegen, wissen wir zwar, dass kein Säbelzahntiger vorbeikommen wird, um sie zu fressen, sie selbst allerdings nicht. Ihr inneres Alarmsystem schlägt an, meldet Gefahr und unsere Kinder möchten Körperkontakt zu uns, ihrem sicheren Hafen. Genauso aktiv ist dieses System bei Hunger, da es ihn nicht selbst stillen kann und auch bei anderen Bedürfnissen.
Unsere Aufgabe als Bindungspersonen besteht darin, unsere Kinder zu beobachten, in ihrer Nähe zu sein und auf ihre Signale zu reagieren und das so oft wie möglich so prompt wie möglich. Alte Ansätze, die besagen, dass es gut wäre, wenn Kinder nicht sofort hochgenommen, gestillt oder getragen werden und sie sich früh an das Einschlafen ohne Begleitung gewöhnen müssten, sind überholt. Denn das würde ja bedeuten, ihre Bedürfnisse nicht zu befriedigen und sie absichtlich in einer für sie als bedrohlich empfundenen Situation zu belassen.
Es geht nicht um Perfektion
Natürlich kann es auch dem feinfühligsten Elternteil passieren, dass es trotzdem länger dauert, bis ein Signal richtig gedeutet oder beantwortet wird. Manchmal müssen wir einfach erst noch für uns selbst sorgen, für Geschwisterkinder oder wir sind müde, gestresst und unaufmerksam. Daher möchte ich noch einmal betonen, dass es hier darum geht, Signale oft genug gut genug zu beantworten und nicht darum, stets und ohne Fehl und Tadel sofort zur Stelle zu sein.
Der Bindungsvorteil der Mutter
Vieles, was hilft diese Signale richtig zu deuten und die Kinder gut zu unterstützen, wird durch perfekte hormonelle Zusammenspiele unterstützt. So ist der Hormonhaushalt von Müttern nach der Geburt auf Bindung eingestellt. Außerdem verfügt sie, wenn alles gut gelaufen ist, über Muttermilch, was die prompte und verlässliche Ernährung vereinfacht und darüber hinaus so viel mehr als nur Nahrungsaufnahme für ein Baby sein kann. Das Saugen an der Brust beruhigt und durch Stillen entsteht viel körperliche Nähe.
Der Vater als primäre Bindungsperson
Anderseits gibt es abgesehen von der ernährungstechnischen Seite der Muttermilch nichts, was nicht auch andere Bezugspersonen leisten könnten. Besonders die Väter. Erstaunlicherweise hat man mittlerweile festgestellt, dass sich auch der Hormonhaushalt von Männern verändert, wenn sie am Anfang viel Zeit mit ihren Babys verbringen. Auch sie werden weicher, zugewandter, liebevoller und aufmerksamer. Dadurch sind sie ebenfalls in der Lage, die Bedürfnisse ihrer Kinder sicher und verlässlich zu befriedigen. Und glücklicherweise werden Kinder hierzulande auch ohne Muttermilch gesund und munter groß. Prinzipiell bringen Väter daher auch alles mit, was es für den Aufbau einer sicheren Bindung braucht. Der wichtigste Faktor ist hier die Zeit. Wenn Väter die primäre Bindungsperson ihrer Kinder werden wollen, müssen sie verlässlich da sein und in den ersten Monaten nach der Geburt viel Zeit in den Bindungsaufbau investieren (genau wie die Mütter).
Unsere Babys sind in dieser Anfangszeit übrigens nicht wählerisch. Sie binden sich tatsächlich an jeden, der sie versorgt und für sie da ist. Wenn diese Person das eben oft genug gut genug tut, kann dabei auch immer eine sichere Bindung entstehen.
Mehr als eine primäre Bindungsperson
Darüber sind auch die Allerkleinsten schon in der Lage, sich an mehr als eine Person zu binden. Vielmehr geht es um einige, wenige, verlässliche Menschen. Gerade bei den schon erwähnten Vorfahren in der Steinzeit war das auch nötig und sicherte die Überlebenschancen eines Babys. Die Müttersterblichkeit war sehr hoch und das Aufziehen des Nachwuchses immer eine Gemeinschaftsaufgabe. Auch in diesem Bereich ist das alte Betriebssystem noch intakt.
@Foto: Inka Englisch