Morgen ist es hier in Hessen wieder soweit. Es gibt Halbjahreszeugnisse. Die Kinder in diesem Land nehmen diese Zettel mit gemischten Gefühlen mit nach Hause. Einige freuen sich, weil sie ihre guten Leistungen in Zahlen gespiegelt sehen. Andere sind unglücklich, weil das, was auf ihrem Papier steht, ihnen suggeriert, dass sie wenig geleistet haben. Leider müssen auch manche Kinder Angst haben, dieses Stück Papier nach Hause zu bringen. Und für die hessischen Kinder, die eine vierte Klasse besuchen, ist das das Zeugnis, mit dem sie sich für eine weiterführende Schule bewerben können. Wenn ich mir die Gespräche anhöre, die Eltern in diesen Tagen führen, bekomme ich den Eindruck, als gäbe es für viele nur einen Weg: Das Zeugnis muss fürs Gymnasium qualifizieren. Sonst, so scheint es, ist die Bildungslaufbahn nichts wert. Doch ist das wahr? Ich denke nicht und möchte dir heute ein paar Gründe nennen, warum ich denke: Es muss nicht immer das Gymnasium sein.
Das hessische Bildungssystem ist vielfältig
Wie sehr die Empfehlung am Ende der Grundschulzeit die Weichen für die spätere Bildungskarriere stellt, das ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In Hessen ist es so, dass das Gymnasium nicht der einzige direkte Weg zum Abitur ist. Der Besuch einer Gesamtschule ist unter bestimmten Voraussetzungen gleichwertig. Kooperative Gesamtschulen bieten sofort oder nach einer zweijährigen Eingangsphase verschiedene Zweige an und Kinder haben hier die Möglichkeit, einen Gymnasialzweig zu besuchen und im Anschluss nahtlos in die gymnasiale Oberstufe weiterzugehen. Integrierte Gesamtschulen unterrichten Schüler auf verschiedenen Leistungsniveaus bis nach der 9. bzw. 10. Klasse gemeinsam. Allerdings werden die Kinder in den Hauptfächern ab der 7. Klasse in Kurse differenziert, sodass sie in diesen auf unterschiedlichen Niveaus lernen. Eine bestimmte Anzahl an Kursen für ein höheres Leistungsniveau qualifiziert ebenfalls direkt zum Besuch der gymnasialen Oberstufe.
Daneben gibt es in Hessen eine breite Auswahl an beruflichen Gymnasien und Fachoberschulen. Berufliche Gymnasien zeichnen sich dadurch aus, dass die dortigen Schülerinnen und Schüler ein großes Interesse an der gewählten Fachrichtung haben. Diese Fachrichtung ist außerdem einer der Leistungskurse, die für das Abitur belegt werden müssen.
Die Fachoberschulen führen hingegen zur sogenannten Fachhochschulreife. Auch hier können Jugendliche nach bestimmten Interessen wählen.
Beide Formen eigenen sich besonders gut, wenn bereits in der 10. Klasse eine Idee darüber vorhanden ist, welche Berufs- oder Studienrichtung einmal in Frage käme.
Das hessische Bildungssystem ist relativ durchlässig
Neben den Gesamtschulen qualifizieren auch Realschulen ihre Schülerinnen und Schüler für einen Übertritt in die gymnasiale Oberstufe. Und zwar vereinfacht gesagt dann, wenn der Realschulabschluss mit einer Durchschnittsnote von besser als 3,0 gemacht wurde. (Wer sich genauer informieren möchte, kann hier lesen). Die Qualifikation für Fachoberschulen ist ebenfalls möglich, die Hürde liegt hier etwas niedriger.
Dieser Weg hat den Vorteil, dass eine Realschulausbildung sehr viel praxisorientierter verläuft, als die Mittelstufe eines Gymnasiums. Dadurch haben Schülerinnen und Schüler wichtige Kompetenzen erworben, gerade im Hinblick auf Selbstorganisation, Zielvorstellungen und Transfer von Unterrichtsstoff. Nachteile haben sie manchmal im Bereich des wissenschaftlichen Arbeitens. Doch gerade beim Übertritt in spezielle Oberstufengymnasien sind normalerweise Strukturen vorhanden, um hier nachzuhelfen, da diese Schulen auf eine heterogene Schülerschaft eingestellt sind und wissen, wo Fallstricke liegen.
Duale Berufsausbildung: Nicht zu unterschätzen
Auch die Entscheidung, nach der 10. Klasse eine Berufsausbildung zu absolvieren, kann viele Türen öffnen. Neben der Tatsache, dass unsere Kinder für ihren Traumberuf nun einmal vielleicht einfach kein Abitur brauchen und ein frühes Erlernen dieses Berufs sie zufrieden macht, ist auch die Ausbildung keine Einbahnstraße. In Hessen gibt es mittlerweile zahlreiche Wege, auch ohne Abitur noch ein Studium zu absolvieren und auch außeruniversitäre Weiterbildungen eröffnen in vielen Bereichen zahlreiche Lernmöglichkeiten und Aufstiegschancen.
Formelle Abschlüsse vs. persönliche Kompetenzen
Neben der Frage, wie das eigene Kind nun auf direktem oder indirektem Weg an einer Universität landet, möchte ich generell die Frage in den Raum stellen, wie groß der Fokus sein sollte, den wir auf formelle Bildungsabschlüsse legen. Natürlich ist es bisher so, dass formelle Abschlüsse mit einem höheren Lebenseinkommen und vielen anderen positiven Faktoren einhergehen und dass sich die Ausrichtung auf sie zu lohnen scheint. Allerdings sollte hier nicht übersehen werden, dass wir uns in einer sich rasch wandelnden Zeit befinden, in der Selbstverständlichkeiten wie Bildungsaufstieg längst nicht mehr gesetzt sind. (Wer hätte denn Anfang 2019 gedacht…ach ihr wisst, was ich meine).
In einer immer weniger voraussagbaren Zukunft, mit multiplen Herausforderungen, wird es aber sehr wahrscheinlich vor allem auf persönliche Kompetenzen ankommen. Wir werden Menschen brauchen, die in der Lage sein werden, mit raschen Veränderungen klarzukommen und diesen angstfrei zu begegnen. In meinem Buch Unperfekt, aber echt! habe ich dazu geschrieben:
Wir brauchen sie, weil
wir in Zukunft Menschen nötig
haben werden, die sich nicht davor
fürchten, nach ihren Überzeugungen zu leben. Wir brauchen sie,
weil ich der festen Meinung bin,
dass man die Herausforderungen
der Zukunft am besten mit Klarheit, Mut und Liebe meistern kann.
Und so etwas lernen Menschen jenseits von formellen Abschlüssen immer da, wo sie sich entsprechend ihrer Gaben entfalten und sich angst- und druckfrei entwickeln können.
Spaß am Lernen erhalten
Dabei ist es wichtig, dass unsere Kinder den Spaß und die Motivation, die sie zum Lernen brauchen, nicht verlieren. Für manche Schülerinnen und Schüler kann das Gymnasium hier genau der Ort sein, an dem das geschieht. Für andere jedoch sind die dort herrschenden Strukturen eine ständige Überforderung und es besteht die Gefahr, dass sie sehr defizitorientiert auf sich selbst schauen. Andere Schulformen können ihnen hier Wege ermöglichen, die sie selbstbewusster und mit mehr Leichtigkeit gehen können – und dass die Ziele längst nicht festgelegt sind, habe ich ja weiter oben schon beschrieben.
Aber die anderen schauen so komisch…
Kürzlich hatte Stadt.Land.Mama einen Artikel einer Mutter, die von den teilweise verletzenden Reaktionen berichtet hat, die sie erhielt, als sie ihr Kind nicht aufs Gymnasium schickte. Auch mir fällt auf, dass gerade in gebildeten Kreisen oft Augenbraun hochgezogen werden, wenn Eltern sagen, dass sie eine andere Schulform gewählt haben. Hier sollte man aber vielleicht wissen, dass das ein sehr (west)deutsches Thema ist. Bildungsaufstieg, der sich dadurch zeigte, dass das eigene Kind ein Gymnasium besucht, war lange Zeit ein Statussymbol, weil er ziemlich sicher den Weg für ein besseres Leben ebnete. Heutige Eltern wünschen sich daher nun mindestens, dass die eigenen Kinder den Weg halten, alles andere wird als “Abstieg” empfunden. Abgesehen davon, dass eine solche Haltung unsere Kinder nicht in ihrer individuellen Persönlichkeit wahrnimmt, muss das auch auf lange Sicht wie oben gesehen gar nicht stimmen. Davon ab sollten Eltern sich hier vor Augen führen, dass viele unserer Nachbarländer diese frühere Differenzierung nach Gymnasium, Realschule und Hauptschule und das damit einhergehende Statusdenken gar nicht kennen. Und dort wachsen genauso kompetente und zum Teil sogar glücklichere Kinder heran.