Ich dachte, es ist etwas passiert, schluchzt das Kind laut, als ich nach Hause komme, du bist doch sonst immer zum Essen da. Die Oma und ich schauen uns ratlos an. Ich hatte extra angerufen und gesagt, dass ich später komme. Das Kind war gut betreut und bis eben, flüstert mir die Oma zu, war auch noch alles in Ordnung. Doch eigentlich war nichts okay. Ein paar Wochen vorher hatten wir nämlich einen geliebten Menschen verloren. Unser Kind hat seine erste bewusste und ganz nahe Erfahrung mit dem Tod gemacht. Es hat getrauert, viel und intensiv. Wortreich und offen. Wir konnten es dabei gut begleiten. Doch Verlustängste nach einem Trauerfall manifestieren sich oft erst einmal in Verborgenen. Das passiert häufiger, als wir vermuten würden.
Wenn kleine Kinder mit Verlusten konfrontiert sind, begreifen sie oft gar nicht, wie endgültig der Tod eines geliebten Menschen ist. Es kann vorkommen, dass sie traurig sind und weinen und eine Stunde später fragen, wann die Person wiederkommt, die es verloren hat.
Ab dem Vorschulalter können sich Verlustängste einstellen
Etwa mit dem Vorschulalter beginnt sich das langsam zu verändern. Kinder bekommen ein Gefühl für die Tragweite von Verlust. Noch nicht in dem Sinn, wie wir Erwachsenen es haben, aber sie verstehen, dass etwas zu Ende ist und nicht wiederkommt. Und ab da beginnen sie den Tod auch zu fürchten.
Nicht so sehr den eigenen Tod, denn Kinder in diesem Alter halten sich oft noch für unverwundbar und ihre Erwachsenen für Superhelden, die sie jederzeit vor allem beschützen können. Aber sie fürchten den Verlust derjenigen, die sie lieben. Gleichzeitig können sie Situationen und Risiken aber noch nicht gut einschätzen und so kommt es, dass ihre Ängste uns sehr willkürlich erscheinen. Für sie jedoch kann sich mit einem Mal jede Trennung von ihren Eltern bedrohlich anfühlen. Im erwähnten Fall zum Beispiel war ich nur in der Nachbarschaft unterwegs, doch für das Kind hätte ich genauso gut in New York weilen können.
Verlustängste brauchen Bindungspersonen
Wenn die kindliche Welt in einer so einschneidenden Art und Weise auf den Kopf gestellt wird, wird das kindliche Bindungssystem wieder aktiviert, egal in welcher Phase im Spagat zwischen Bindung und Autonomie sich unsere Kinder normalerweise gerade befunden haben. Wenn sie mit der Endlichkeit des Lebens um sie herum konfrontiert sind, ist ihr Bedürfnis nach Sicherheit groß. Außerdem sind sie voller Gefühle, die sie kaum einordnen können. Sie sind traurig. Sie vermissen einen Menschen. Sie sind unsicher, weil sie oft nicht vollständig verstehen, was gerade passiert ist. Manchmal sind sie auch stinkwütend und sie haben eben auch Angst. All diese Gefühle können sie nicht ohne uns verarbeiten. Sie brauchen unsere Hilfe bei der Regulation. Unsere Abwesenheit fühlt sich deswegen bedrohlich an.
Nun gibt es leider immer noch Menschen, die dir in so einer Situation raten, dein Leben möglichst normal weiterzuleben und dass dein Kind „da nun durch müsse“. Oft steckt die Angst dahinter, dass Kinder sich an unsere ständige Verfügbarkeit gewöhnen und die Verlustängste sich dadurch nur noch stärker manifestieren. Das menschliche Bindungssystem funktioniert aber genau andersrum. Im Fall von Verlustängsten nach einem Trauerfall hat dein Kind ein starkes Bedürfnis nach dir, deiner Nähe und deiner Verfügbarkeit. Wenn dieses Bedürfnis prompt und verlässlich befriedigt wird, verschwindet es irgendwann wieder. Dein Kind wird wieder stark und selbstsicher werden und die Lust daran, seine Flügel auszubreiten und Autonomie zu leben, wird zurückkommen.
Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass die Verlustängste sich manifestieren, gerade dann, wenn auf die kindlichen Bedürfnisse in so einem Fall nicht oder nur unzureichend eingegangen wird. Unsere Kinder verbleiben dann im Gefühl der Unsicherheit und der Unberechenbarkeit.
Sich selbst für eine Weile zurücknehmen
Doch was heißt das konkret? Natürlich ist es nicht immer möglich, das ganze Leben auf dem Kopf zu stellen. Die meisten von uns müssen arbeiten und Kinder in die Schule oder den Kindergarten gehen. Auch weitere Verpflichtungen lassen sich oft nicht komplett runterfahren. Doch genau da kann man ansetzen: Alles, was nicht zwingend sein muss, sollte für eine Weile hintenangestellt werden. Für uns bedeutete das damals, dass wir ehrenamtliche Verpflichtungen runtergefahren haben und leider auch unsere Paarzeit für eine Weile so organisieren mussten, dass wir zu Hause bleiben konnten. Wenn einer von uns abends aus dem Haus musste, sorgten wir dafür, dass der andere da war. Außerdem gestalteten wir unsere Abläufe noch übersichtlicher als sonst. Überstunden, Verspätungen, mal schnell noch dies oder das, all das versuchten wir für eine kleine Weile zu vermeiden, um dem Kind Verlässlichkeit zu zeigen.
Das war manchmal ein bisschen frustrierend und wir hätten uns das sicher anders gewünscht. Aber es war auch gut zu sehen, wie sehr das Kind davon profitiert hat und wie sich nach und nach die Verlustängste gaben und der Wunsch nach Autonomie wieder zunahm. Es hat sich auch jeden Fall gelohnt, hier zu geben, was gebraucht wurde.