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Es ist so viel mehr – über Kinder und Jugendliche in der Pandemie

Jedes dritte Kind ist derzeit psychisch auffällig, so hat es zumindest eine Hamburger Studie gerade herausgefunden. Das sind auf den ersten Blick erschreckende Zahlen – um es vorwegzunehmen, sie bleiben es auch auf den zweiten und dritten. Und dennoch möchte ich sie mir mit euch heute einmal genauer ansehen.

Ich will mit euch genauer hinsehen, was Kinder und Jugendliche in der Pandemie brauchen. Denn ein weiterer wichtiger Satz dieser Studie steht selten in den Überschriften: Dieses “Auffällig sein” ist nämlich keinesfalls mit psychischen Erkrankungen zu verwechseln.

Auffällig sein bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Erwachsene, die mit den Kindern zutun haben, Verhalten wahrnehmen, dass ihnen im wahrsten Sinne des Wortes AUFFÄLLT. Kinder verhalten sich anders, als sonst. Vielleicht kommt eine bestimmtes Temperament besonders zum Tragen. Vielleicht ist ein sehr impulsives Kind, das seine Gefühle normalerweise schon gut regulieren kann, im Moment auffällig explosiv. Vielleicht zieht sich ein ruhiges Kind derzeit noch viel stärker zurück. Ein mäkeliger Esser möchte kaum noch was, ein Kind das sowieso am liebsten in andere Welten abtaucht, seien es Bücher, Serien oder Games, möchte am liebsten gar nicht mehr auftauchen. Das sind erst einmal nicht ganz unnormale Reaktionen auf eine Extremsituation. Auch unter Erwachsenen kann man solcherart auffälliges Verhalten derzeit beobachten.

Doch einigen Kindern geht es derzeit deutlich schlechter. Psychosomatische Beschwerden haben zugenommen, genau wie depressive Symptome und Angststörungen. Die Situation setzt unseren Kindern zu und das erst einmal unabhängig von den Bedingungen, wie sie aufwachsen. Was die Krise mit ihnen macht, hat viel mit ihrem Temperament zutun. Und doch gibt haben natürlich auch die Umstände zu Hause einen Einfluss. Denn natürlich sind es die Kinder, die schon vor der Pandemie nicht in sicheren, warmen Nestern mit viel Liebe und Behütung aufgewachsen sind, die mehr leiden als die, die über all diese wichtigen Ressourcen verfügen. Hier zeigt sich das eigentliche Problem – Corona wirkt wie ein Brennglas auf die Missstände in unserer Gesellschaft. Das ist ein Grund, warum ich diese Zahlen auch auf den zweiten, nicht mehr im reißerischen Headline-Schreck verhafteten, Blick besorgniserregend finde.

Und ich finde noch etwas anderes besorgniserregend: Die gesellschaftlichen Antworten auf das Leiden der Kinder. Ihr kennt sie. Schule auf. Kita auf. Fenster auf. Es wird so getan, als seien Schulen und Kitas das Allheilmittel für die Sorgen und Nöte der Jüngsten. Dabei zeigt die Studie auch ganz deutlich, dass es nicht vorrangig darum geht, dass Kinder wieder in einem Klassenraum sitzen müssen. Viel wichtiger wäre es, ihnen ein Drumherum zu ermöglichen. Kinder leiden unter Bewegungsmagen. Unter ungesunder Ernährung. Unter Kontaktarmut. Unter der Beschneidung ihrer Autonomie. Schulöffnungen können ihnen gerade nur wenig davon zurückgeben. Denn viel von dem, was da Abhilfe schaffen könnte, bleibt ja verboten. Spielen auf dem Schulhof geht nur mit Abstand. Raufen und Toben bleibt schwierig. Vielerorts bleiben Schulküchen und Mensen weiter geschlossen. Die Kinder sind auch bei geöffneten Schulen weiterhin stark durchreglementiert und von Autonomie kann hier nicht die Rede sein.

Warum bitte also glauben wir, ausgerechnet die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts (inklusive Leistungsnachweise und Notendruck) würde unseren Kindern in dieser Krise helfen? Warum diskutieren wir über Schuljahrverlängerung, Ferienkürzung, staatlich verordnetes Sitzen- oder Nichtsitzenbleiben? Warum versuchen wir ihren Einkommensverlust und den Schaden für die Wirtschaft zu berechnen, statt uns ihre Nöte im Hier und Jetzt anzusehen? Ich fürchte, das hat einen Grund: Es geht nicht um ihre wirklichen Probleme. Es geht nicht um die 33 Prozent, die gerade so doll neben der Spur laufen, dass ihre Eltern sie als “auffällig” einstufen und auch nicht um die 20 Prozent, die wirklich psychisch erkrankt sind. Es geht auch nicht um die leeren Bedürfnistanks, mit denen unsere Kinder sich durch diese Monate schleppen. Es geht um die Angst der Erwachsenen vor den Folgen, die es für sie hat.

Es geht um Humankapitel und Wohlstand. Es geht um genügend Auszubildende und leistungsfähige Studierende. Es geht um möglichst wenig Knirschen im Schulbetrieb und um Kitaplätze, die frei werden, statt ein Jahr länger von Vorschulkindern besetzt zu bleiben. Es geht um Mütter und Väter, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Es geht um Wohlstand im Alter – wohlgemerkt für den heutigen Erwachsenen und nicht für unsere Kinder. Würde es nämlich wirklich um unsere Kinder in dieser Situation gehen, würden wir anders reden. Über Kinderschutz und Kinderrechte. Über Bedürfnisse. Über Prävention. Über langfristige Hilfskonzepte Über Schulsysteme, die jetzt und in Zukunft allen Kindern den bestmöglichen Weg ebnen können. Ginge es um ihre psychische Gesundheit, würden wir Druck rausnehmen, Leistungsbewertungen aussetzen, Konzepte für Nähe, Beziehung und Spaß erarbeiten.

Na wie denn? Was soll man denn anders machen, werde ich oft gefragt. Kreativ sein – möchte ich dann am liebsten antworten. Eins meiner Kinder ist zum Beispiel im Moment am Mittwochnachmittag am glücklichsten. Da findet ihre Jungschar statt. Über Zoom. Die Verantwortliche scheint sich ziemlich viel mit digitaler Didaktik und Gruppenleitung beschäftigt zu haben, denn das, was sie da so machen, haut mich um. Sie malen gemeinsam am selben Bild, spielen Galgenmännchen und Werwölfe vom Düsterwald, tauschen sich aus und erleben Gemeinschaft, die diesem Wort gerecht wird. Und ja – ich weiß – auch das ist wieder ein privilegiertes Ding, denn nicht jedes Kind hat ein Endgerät und eine stabile Internetverbindung. Mal abgesehen davon, dass das nach 11 Monaten Pandemie sowieso zum Himmel schreit, ist ja ein digitaler Treffpunkt nicht die einzige Lösung. Würden wir nämlich aufhören, an der Schulbildung zu hängen, wie am Goldenen Kalb, könnten wir die Zeit unserer Kinder und Jugendlichen auch anders gestalten. Mit der Mobilisierung aller fähigen Menschen, allen pädagogischen Personals und der Nutzung aller vorhandenen (und im Moment leerstehenden) Räume (inklusive Kneipen, Säle, Sporthallen, Büchereien, usw.) könnte man sehr viele kleine, feste Gruppen bilden, die sich regelmäßig sehen können, um ein wenig Schulbildung und vor allem Gemeinschaft zu haben. Mobile Luftfilter, Masken und Teststrategien könnten ihr übriges leisten.

Aber die Prioritäten liegen halt woanders. Jedenfalls nicht bei den Kindern, denen es wirklich schlecht geht.

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Fotos: Inka Englisch (Link)

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