In den nächsten Tagen können unsere Kinder sich in den Schulen ihre Zwischenzeugnisse abholen. Wie das abläuft und auch wann sie das tun können, unterscheidet sich überall ein bisschen. Was gleich bleibt: Das komische Gefühl, das dieses Stück Papier auch diesmal wieder bei mir auslöst. Zugegeben, diese Halbjahreszeugnisse sind ein bisschen aussagekräftiger, als die Abschlusszeugnisse im letzten Sommer. Aber auch nur ein bisschen.
Denn fest steht – auch die Zahlen die dort stehen, kann man nicht lesen, ohne dabei Corona zu denken. Sie sagen nichts aus, wenn wir uns nicht immer wieder vor Augen führen, dass auch sie massiv vom ersten Lockdown beeinflusst wurden. Zwar waren die Schulen zwischen den Sommerferien und Mitte Dezember größtenteils offen (abgesehen von immer wiederkehrenden Quarantäneanweisungen), doch baute alles, was unsere Kinder getan haben, auf dem Stoff aus dem Lockdown auf. Ich weiß noch, wie sich gleich zu Beginn des neuen Schuljahres ein kleines Stechen in meiner Magengegend ausbreitete. Die Kinder hatten ihre ersten Arbeiten geschrieben und plötzlich feierten sich die Eltern – wie toll das doch alles gelaufen sei. Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern, wenn ihre Kinder den Stoff aus dem Homeschooling gut zu Papier brachten. Ihr Verdienst, diese Einsen und Zweien – ganz klar.
Vor meinem geistigen Auge sah ich die müden Gesichter der Mütter und Väter, die ich in diesen anstrengenden Monaten beraten und begleitet hatte. Ich sah die, die nach einigen Wochen das Homeschooling komplett aufgegeben hatten. Ich sah die, die diese Aufgabe überhaupt nie hatten leisten können. Ich sah die, die ausgelaugt waren, vom Streiten und vom Weinen, vom Diskutieren und Schimpfen. Ich sah die Kinder, die Wochen gebraucht haben, um überhaupt in diese neue Situation zu finden. Und ja – ich sah auch die anderen. Die Mütter und Väter, die großartige Leistungen vollbracht haben. Die ihre eigenen Bedürfnisse gut zurückstellen konnten, die nachts gearbeitet und tagsüber unterrichtet haben. Die, die die Zeiten von Freistellungen und Kurzarbeit genutzt haben, um ihren Kindern mitzugeben, was nur ging – und ja – ihr habt wirklich einen guten Job gemacht. Hut ab.
Doch die Noten auf dem Papier, das morgen kommt, sind keine Aussage über deinen Job oder meinen. Sie sagen nichts über die Leistung der Lehrkraft und wenig über das Können deines Kindes. Das Zeugnis, das morgen kommt, ist ein Pandemiezeugnis. In ihm findest du Informationen über Privilegien, die die eine Familie hatte und die andere nicht. Es ist eine Aussage über technische Ausstattung, strukturelle Unterstützung und Medienaffinität. Es sagt auch etwas über das Gemüt deines Kindes aus – ist es sehr sensibel und brauchte lange, um sich der neuen Situation anzupassen? War das Hin und Her, das Maskentragen, waren die Abstandsregeln und die Gesamtsituation belastend oder konnte alles gut ertragen werden?
Wenn morgen die Halbjahreszeugnisse kommen, dann nimm sie zur Kenntnis. Lächele und streichele deinem Kind über den Kopf, ganz egal, was da steht. Deck den Tisch mit Süßigkeiten und Gebäck, bestell eine Pizza oder mach sie selbst und erlaub Cola und Limonade in unbegrenzten Mengen. Häng Luftschlangen auf und feiert ein Fest. Feiert nicht das Zeugnis oder die Noten. Nein – feiert, dass ihr wieder ein Halbjahr geschafft habt. Ein Halbjahr unter Pandemiebedingungen. Sprecht über das, was dein Kind gelernt hat – über alles, was es heute kann und vor einem halben Jahr noch nicht konnte. Da gehört sicher eine Menge Schulstoff rein – aber mehr als das gehören andere Sachen dazu. Die Dinge, die uns nur Corona lehren konnte. Die wir durch diese absurde, schlimme Situation lernen konnten und mussten. Du – und dein Kind. Wir alle. Ich glaube, sie werden einmal wichtiger sein, als die Zahlen, die auf diesem Blatt Papier stehen.
Klopf dir auf die Schulter – du hast es gut gemacht – und du machst es jeden Tag ganz wunderbar.
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