Eine Amerikanerin, bereits mehrfache Oma, sagte mir einmal, es gibt in der Elternschaft sieben kleine, sieben mittlere und sieben große Jahre. Je länger ich als Mutter unterwegs bin und je länger ich Familien begleite, desto mehr merke ich, wie sehr ich da mitgehen kann.
Nun müssen es nicht immer exakt sieben Jahre sein, vielleicht sind es mal nur sechs oder acht oder auch nur fünf oder neun. Aber so quer über den Daumen stimmt es.
Da sind die kleinen Jahre – in denen entwickeln sich unsere Babys zu Kleinkindern und dann zu großen Kindern. Es ist die Zeit von viel körperlicher Nähe und körperlich anstrengenden Phasen, in denen wir sie tragen, oft in unserem Bett haben, noch viel in der Körperpflege eingebunden sind. Wir begleiten sie auf den meisten ihrer Wege und helfen ihnen zu verstehen, was in ihnen vorgeht. Wir regulieren und erklären starke Gefühle und kennen so ziemlich jede Sekunde ihres Tages. Bis zum Ende der kleinen Jahre wachsen wir mehr und mehr aus diesen Phasen raus und es wird anders. In den mittleren Jahren wachsen unsere großen Kinder zu Teenagern heran. Wir sind präsent und viel dabei und doch ist jeder Schritt ein weiterer von uns weg. In den großen Jahren rücken wir mehr und mehr auf die Zuschauerplätze – wenn auch in einem interaktiven Theater, in dem die agierenden Personen weiterhin unsere volle Aufmerksamkeit brauchen, denn sie könnten uns jederzeit in die Szenerie rufen. Irgendwann am Ende der großen Jahren begegnen wir unseren erwachsenen Kindern. Unser Teil ist dann getan und unsere Beziehung bleibt – aber die Jahre der Verantwortung liegen hinter uns.
Mein Alltag trägt mittlerweile die Spuren der mittleren Jahre. Zwar gibt es hier immer noch zwei kleine Händchen, die nach mir greifen und einen warmen Körper, der sich häufig an mich kuschelt, aber die kleinen, gummibestiefelten Beine meiner letzten Kleinen laufen strammen Schrittes in Richtung der mittleren Jahre, in denen meine beiden Großen längst angekommen sind. Hier steht kein Wickeltisch mehr, du findest keine Schnullis mehr in den Bettritzen und auch die Lätzchen sind weg. Dafür geht es mehr um Schule, um Freundschaften, um Verabredungen und um darum, eigene Dinge in dieser Welt zu entdecken. Es geht um das Finden von Hobbys, Interessen und auch Haltungen. Es geht darum, die Werte, auf die man draußen trifft, mit denen abzugleichen, die zu Hause gelebt werden.
Und natürlich geht es auch in den mittleren Jahren noch um starke Gefühle und um unsere Hilfe beim Regulieren. Es geht noch immer ums Kuscheln und ums Umarmen, ums Trösten und gemeinsam Quatsch machen. Doch es geht eben auch viel mehr ums Reden. Die kleinen Jahre sind unglaublich zeitintensiv – als Eltern sind wir von morgens bis abends gefordert – doch auch in den mittleren Jahren bleibt Zeit ein wichtiger Faktor. Doch jetzt geht es nicht mehr um jede Minute – sondern eher um DIE MINUTE. Von Svenja Walter habe ich den Gedanken übernommen, dass man als Mutter unzählige Stunden anwesend sein muss, um in der Viertelstunde da zu sein, in der es wichtig ist. Das finde ich gerade für die mittleren Jahre hilfreich. Meine Präsenz ist anders – sie ist nicht mehr so unmittelbar, sondern eher schwebend.
In den mittleren Jahren beginnen unsere Kinder die Welt zu entdecken – mehr und mehr. Aber das Schöne an ihnen ist, dass wir sie dabei noch viel begleiten dürfen – und auch müssen. Denn die Welt, in der wie sie nach und nach lassen, ist eine sehr komplexe. Wie gehen wir mit Medien um? Wie sprechen wir mit unseren Kindern über gefährliche Trends in sozialen Netzwerken? Wann erzählen wir ihnen etwas zum Thema Verhütung? Welche Schulform empfinden wir gemeinsam nach der Grundschule als die richtige und was tun, wenn uns die Freunde unserer Kinder irgendwie suspekt sind?
Die mittleren Jahre sind in vielerlei Hinsicht ein Übungsfeld für die großen Jahre, wenn wir nicht mehr so direkt dabei sein werden. Das Spannungsfeld zwischen Verbundenheit und Autonomie ist groß, in den mittleren Jahren – und mit ihm auch das Potential für Konflikte. In den mittleren Jahren ist eine große Aufgabe von uns Erwachsenen, herauszufinden, wie viel von uns unsere Kinder in welcher Situation brauchen. Die Antwort darauf können nur wir allein finden – und sie ist für jedes unserer Kinder anders. Es gibt Superschlaue, die meinen, sie wüssten das besser als wir. Sie erzählen uns, dass wir hier zuviel verwöhnen, dort helikoptern und da wiederum zu viel Freiheit zugestehen. Lass sie reden oder kapp ihnen den Ton. Sie können es nicht wissen, denn sie sind nicht du – und sie begleiten nicht dein Kind ins Leben. Verlass dich in den mittleren Jahren auf das, was dich auch durch die kleinen Jahre getragen hat. Verlass dich auf dein gutes Gespür für dein Kind. Schau hin. Nimm wahr. Versuch zu verstehen, was los ist, statt es zu bewerten. Sei achtsam und offen – und trau dich Fehler zu machen und sie zu korrigieren.
Und die mittleren Jahre, das sind nicht nur Konflikte und Spannungen, nein, sie sind auch die Zeit einer neuen Art von Nähe. Genieße Spieleabende, die aus mehr als nur Memory bestehen. Mach Popcorn und such einen Disney-Klassiker raus oder führ dein Kind in die Universen deiner Jugend ein – reist gemeinsam mit Captain Picard durchs All oder werdet Jedi-Meister, lasst euch von Harry und Hermine verzaubern oder reitet mit Gandalf durch Mittelerde. Freu dich, dass du gemeinsam mit deinen Kindern am Lagerfeuer sitzen kannst, ohne ständig in Alarmbereitschaft zu sein und dass es von dem Baum, auf den es geklettert ist, wieder allein herunterkommt. Genieße die mittleren Jahre und sei dir dabei bewusst, dass jeder Schritt, den sie in ihren neuen, neonfarbenen Turnschuhen machen, einer von dir weg ist.
Und ich bin jetzt sogar schon einmal im letzten Abschnitt gelandet, die kleinen Jahre liegen hinter mir. Es ist ein Segen, aber es ist auch zum heulen. Wir werden auch wieder groß, und wieder und wieder. Die werden mir alle irgendwann ganz furchtbar fehlen.
Ich weiß, meine Liebe ????.
Wunderschöner Artikel! Ich erlebe es ganz ähnlich.
Danke dir!
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