Der September ist erst wenige Stunden alt, als ich den ersten Zwiebelsaft des Jahres ansetze. Die Erkältungswelle hat uns früh und hart getroffen. Gerade hatte ich zaghaft begonnen, mich auf die neue Normalität einzulassen und im Rhythmus aus Vormittagen mit Schreiben und Haushalt und Nachmittagen mit Hausaufgaben, Vokabeln und Trompete üben durch die Zeit zu gleiten, da steht genau diese schon wieder still.
Am Wochenende, das der Mann und ich allein in Eisenach verbracht haben, haben wir noch Witze gemacht. Dass uns sicher gleich andere Camper wegen Corona-Verdacht bei der Rezeption melden würden, haben wir lachend vermutet, immerhin hustet der Mann so, dass man Angst bekommen könnte. Die Beifußpollen haben es aber auch in sich dieses Jahr, meine Herren!
Dass es meinem Liebsten Sonntagabend im Hals kratzte, schoben wir schließlich auch auf seinen allergischen Husten. Alles nicht neu für uns. Nur die Zahl auf dem Fieberthermometer, die dort 24 Stunden später auf einmal aufleuchtete, die war neu. Und so gar nicht allergisch. Der Husten hörte sich auf einmal auch nicht mehr richtig nach Allergie an – sondern irgendwie – OH MEIN GOTT!!!!
Und so hing ich am Dienstagmorgen erst einmal am Telefon und entschuldigte die Kinder: Im Kindergarten, in den Schulen, beim Augenarzt, den Schulwegfreunden und beim morgendlichen Bonuskind, das auch auf keinen Fall zum Frühstück hier erscheinen durfte. Der Mann organisierte sich derweil einen Termin in der Infektionssprechstunde. HELLO QUARANTÄNE MY OLD FRIEND I’VE COME TO TALK TO YOU AGAIN.
Zum Glück hatte ich diese Art von Routine noch halbwegs drauf und die Kinder auch. Spaß hat sie uns trotzdem nicht gemacht. Wir fluchten und motzten uns mehr oder weniger durch den Vormittag und die Ungewissheit darüber, wie es jetzt weitergeht, machte unsere Nerven nicht stabiler.
Pünktlich zum Mittagessen war der Mann vom Arzt zurück. Mit einer fetten Bronchitis und ohne Verdacht auf Coronaviren. Er atmete Inhalationszeug ein, wir den Duft der wiedererlangten Freiheit. Ich griff wieder zum Hörer und gab überall Entwarnung. Im Kindergarten, den Schulen, bei den Schulwegfreunden und dem morgendlichen Bonuskind. Was für eine Aufregung und zum Glück umsonst. Doch ich finde, bei Corona gilt, dass ich mich lieber einmal mehr umsonst aufregen möchte, als einmal zu gelassen gewesen zu sein.
Während ich so die Zwiebeln schneide, denke ich, dass das sicher nicht der letzte Tag gewesen ist, an dem morgens auf einmal alles anders läuft, als geplant. Wir können in dieser Pandemie nichts anderes tun, als uns langsam vorzutasten. Auf Sicht fahren, solange frei ist und darauf gefasst sein, dass jederzeit eine Vollbremsung alles wieder zum Stillstand bringen kann. Sicher nicht mehr für vier Monate, so wie letztes Mal, doch vielleicht immer mal wieder tageweise, bis ein Verdacht aus der Welt ist oder weil es Kollegen oder Klassenkameraden erwischt. Dieser Herbst und dieser Winter werden alles, aber nicht gewöhnlich werden.
Und gleichzeitig ist all das total gewöhnlich. Denn eigentlich fahren wir immer nur auf Sicht. Eltern sein ist nichts anderes, als eine lange Reise ins Ungewisse. Pläne sind wundervoll – und schnell durchkreuzt. Einmal ist es das vollgekotzte Bett und ein anderes Mal eine Zahl jenseits von 38 auf dem Fieberthermometer oder der Anruf vom Kindergarten, dass das Kind von der Wippe gefallen ist.
In meinen Vorträgen über Betreuungsmöglichkeiten im Kleinkindalter sage ich den Eltern oft, dass sie tragfähige Lösungen für eineinhalb bis zwei Jahrzehnte brauchen. Manchmal ernte ich dafür Unverständnis. Ich meine damit nicht, dass man sich im ersten Lebensjahr für die Betreuungsform der nächsten 21 Jahre entscheiden muss, denn die meisten Tagesmütter nehmen Kinder meiner Erfahrung nach nicht mehr, wenn diese schon selbst mit dem Auto vorfahren und Krippen sind da ähnlich unflexibel.
Was ich damit meine ist, dass unsere Pläne das Unplanbare mit einrechnen müssen. Ein Vereinbarkeitsmodell, das zusammenbricht, weil das Kind Fieber hat, die Kita streikt oder der Mann mitten in einer Pandemie laut rumhustet, ist keins. Wenn wir uns fragen, wie wir mit unseren Partnern und Kindern unser Leben rumkriegen wollen, müssen wir uns auch fragen, wo der Raum für Fieber ist, für den ersten Liebeskummer oder die unvorhersehbare Vollkatastrophe – denn sie wird früher oder später eintreten.
Fürs Familienleben gibt es kein Navi, das uns geschickt um jeden Stau herumleitet. Wir können nur auf Sicht fahren und jederzeit auf die Vollbremsung gefasst sein. Ach ja – und immer Zwiebeln und Honig im Haus haben.
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