Morgen ist es in Hessen wieder soweit. Unsere Kinder bekommen Zeugnisse. Das verrückteste Schuljahr, das ich in meinem Leben bisher erlebt habe, geht zu Ende. Allerdings nicht, ohne uns noch ein paar Zahlen auf einem Blatt Papier zu hinterlassen. Zahlen, die sich anschicken, etwas über den Lernerfolg unserer Kinder auszusagen.
Nun kann man groß und breit diskutieren, ob diese Zahlen sich jemals dazu geeignet haben (es wird niemanden überraschen, dass ich selbst wenig von Noten halte). Dieses Jahr halte ich sie für besonders unangebracht. Jede einzelne Ziffer, die am Zeugnistag auf den Blättern meiner Kinder stehen wird, ist eher der Ausdruck eines Systems, dass sich in seiner Behäbigkeit selbst im Weg steht.
Sie spiegeln einen Bereich, der weniger als jeder andere in der Lage war, sich auf die Krise einzustellen. Sie zeigen, dass nicht mal in so einem Jahr eine Alternative zur Bewertung gefunden werden konnte. Jedes einzelne Notenzeugnis ist dieses Jahr das Testament einer Heilige Kuh, die in Deutschland nicht auf die Schlachtbank kommt. Das wohlgemerkt, liegt nicht an den Lehrern. Ich könnte mir vorstellen, dass nicht wenige von ihnen kopfschüttelnd Zahlen eingetragen haben. Zahlen, für deren Erhebung ihnen praktisch keine Zeit blieb. Leistungsbewertungen für Leistungen, die sie gar nicht bewerten durften. Gezwungen dazu, sich an den Zahlen vom letzten Halbjahr zu orientieren, die doch eigentlich hätten Schnee von gestern sein dürfen. Nein – ich gehe davon aus, dass die meisten Lehrerinnen und Lehrer, die ich kenne, auch lieber einfach nur aufmunternde Worte in Richtung der jungen Pandemiehelden verfasst hätten. Aber in Deutschland geht das nicht. Da muss am Ende des Schuljahres ein Zeugnis verteilt werden. Mit Zahlen. Die zwar nichts aussagen und das weiß auch jeder, aber wo kämen wir denn hin, wenn wir darauf verzichten würden?
Ja, wo kämen wir hin, wenn wir dieses Jahr einfach keine Notenzeugnisse ausstellen würden? Ja – wir kämen vielleicht tatsächlich an den Punkt, an dem ihre Sinnhaftigkeit generell in Frage gestellt werden würde. Vielleicht müssten wir dann wirklich darüber nachdenken, ob Gelerntes sich in Zahlen messen lässt. Und wofür wir in den 2020er Jahren tatsächlich noch eine Rückmeldung dieser Art über Menschen brauchen. Das wären spannende Diskussionen, die sich daraus entwickeln könnten. Doch diese Themen machen vielen Menschen Angst. Denn die Noten in Frage zu stellen, das wäre nur der Anfang. Die Diskussion würde sich zwangsweise auf das Schulsystem als solches auswirken. Wir würden den Blick zu Schulkonzepten, die schon heute lange Zeit ohne Noten auskommen, nicht vermeiden können. Wir müssten uns die Frage stellen, was diese Schulen oder Länder anders machen. Oh – und dann wären wir zwangsläufig irgendwann beim Thema Geld.
Und Geld soll die Heilige Kuh nun wirklich nicht kosten. Das Schöne an ihr ist ja, dass sie so billig ist und sich hervorragend für Massentierhaltung eignet. Gut – ähnlich wie uns diese gerade zeigt, dass sie nicht für Pandemien und auch sonst wenig taugt, ist es mit den Schulen. Aber ich denke man hofft, dass beides schnell wieder in Vergessenheit gerät, wenn wir zurück zu einer wirklichen Normalität finden. Zumindest hofft manch einer das vielleicht.
Doch ehrlich gesagt bin ich hoffnungsvoll. Ich glaube, wir WERDEN diese Diskussion früher oder später führen. Ich glaube, Corona hat den Finger in viele Wunden unserer Gesellschaft gelegt und ich hoffe darauf, dass sich neu gegründete Initiativen wie wir für Schule nicht von einer neuen Normalität zum Schweigen bringen lassen, sondern beharrlich bleiben und Dinge verändern, die auch ohne Pandemie verändert werden müssen.
Doch was machen wir bis dahin? Wie gehen wir mit den Zetteln um, die uns am Freitag ins Haus flattern werden? Ich würde vorschlagen, wir machen es, wie immer! Wir schätzen wert, was unsere Kinder in diesem Schuljahr geleistet und gelernt haben. Und genau darüber können wir sprechen. Manches spiegelt sich vielleicht darin wider, dass eine niedrige Zahl beim entsprechenden Fach eingetragen wurde. Manches ganz sicher nicht, denn eine Note, die sich nicht mit gut oder sehr gut beschreiben lässt, bedeutet nicht, dass eure Kinder nichts gelernt haben. Vielleicht können sie jetzt eine neue Rechenart. Eine Zeitform? Die ersten Wörter in einer neuen Fremdsprache? Sicher wissen sie etwas über Pflanzen, Tiere, Städte, Länder oder Gegenstände, das sie vorher nicht wussten. Und genau das sollte Thema sein, wenn ihr am Freitag über die Zeugnisse sprecht. Besprecht den Weg – nicht die Zahl.
Und dann sind da ja noch die Sachen, die Zeugnisse gar nicht abbilden können. Die schlagen dieses Jahr besonders zu buche. Eins meiner Kinder kann jetzt Marmelade kochen. Sie alle haben etwas über das Wachsen von Gemüsepflanzen gelernt. Und reiten. Sie wissen ziemlich viel über Viren. Und selbst die Fünfjährige kann verschiedene Programme zum Videochatten bedienen. Unsere Kinder haben auch was über uns gelernt. Sie verstehen auf einmal mehr von unseren Berufen. Haben mitbekommen, was wir täglich so tun, was uns leicht fällt und woran wir straucheln? Das und noch vieles mehr steht in keinem Zeugnis – und wird für ihr Leben doch elementar sein. Wie ist das bei euren Kindern? Was haben sie gelernt, während sie im Lockdown waren? Vielleicht habt ihr ja Lust, ihnen ein eigenes Zeugnis zu schreiben?
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