In den ersten Wochen des Lockdowns hatten wir ein ganz besonderes Abendritual: Jeden Abend, nachdem die Kinder ihre Zähne geputzt hatten, sind wir zu unserem größten Fenster gelaufen. Dort standen auf der Fensterbank aufgereiht viele kleine Töpfchen voller Erde. In dieser Erde tat sich was. Anfangs noch vor unseren Augen verborgen, später sichtbar, entwickelte sich Leben. Nach zehn bis vierzehn Tagen sprossen zart die ersten Gemüsepflänzchen und Kräuter.
Manche jedoch wuchsen sehr langsam. Wochenlang war nichts als Erde zu sehen. Ob die noch werden, fragten wir uns? Es wird, flüsterte eine leise Stimme in mir. Eines Abends entdeckten wir einen grünen Stängel. Überraschend dick war er. Er hatte wohl besonders viel Kraft in seinem Versteck unter der Erde gesammelt. Und von diesem Tag an konnten wir ihm beim Wachsen zusehen. Mama, rief ein Kind nur wenige Tage später, die Zucchinipflanzen brauchen größeren Töpfe. Wir pflanzten sie um, doch es dauerte nicht lange, da war auch dieser zu klein. Er muss raus, dachte ich. In einen großen Terrassenkübel. Doch die Eisheiligen standen noch vor der Tür. Ob die Zucchini eine weitere Woche auf der Fensterbank und im zu kleinen Topf überleben würden? Vielleicht würden sie dort eingehen? Es wird, flüsterte die leise Stimme.
Mitte Mai kam der Tag, da wir sie auspflanzen konnten. Doch würde alles gut gehen? Was wenn doch Frost käme? Wachsen sie wirklich in Kübeln? Und man liest ja so viel: Mehltau, Fruchtfäule, zu wenig Bestäubung. Es wird, flüsterte die Stimme. Und wirklich: Die ersten Früchte kamen. Doch sie waren winzig und wuchsen langsam. Ob aus denen wohl jemals große Früchte werden würden? Es wird, flüsterte die Stimme.
Vor einigen Tagen begleitete mich eins der Kinder auf meiner Nordic Walking Tour um den See. Das Kind fuhr auf dem Rad immer vor mir her und ab und zu wartete es auf die lahme Mama. Und wie ich es so fahren sah, dachte ich darüber nach, wie viele Gedanken ich mir schon um dieses Kind (und seine Geschwister) gemacht habe. Würde es jemals Radfahren lernen? Es war immer so abgelenkt. Hatte wenig Lust zu üben. Bremste mit den Füßen und brauchte lange Hilfe beim Aufsteigen. Oh nein, hatte ich manchmal gedacht. Was, wenn die Fahrradprüfung kommt und mein Kind kann als einziges nicht richtig fahren? Es wird, hatte die Stimme damals geflüstert. Heute – noch lange vor der Fahrradprüfung, fährt es vor mir her. Souverän. Konzentriert. Auf seinem neuen, großen Rad.
Genau wie die Zucchini müssen auch unsere Kinder manchmal erst einmal im Verborgenen wachsen. Manche Entwicklungsschritte vollziehen sich für uns unsichtbar. Unter der Erde. Wenn wir nur das zum Maßstab nehmen, was außen schon sichtbar ist, können wir leicht in Panik geraten. Was-wäre-Wenns schießen uns durch den Kopf. Doch es lohnt sich, nicht immer sofort in Aktionismus zu verfallen. Es mag reizvoll erscheinen und sicherer, eine ergotherapeutische Sitzung zu vereinbaren, Nachhilfe zu suchen, extra viel zu üben. Doch sehr oft sind solche Maßnahmen unnötig. Häufig reicht es, einfach zu atmen und zu vertrauen.
Mein Kind, das in der ersten Klasse nur schwer ins Lesen kam, sieht man mittlerweile kaum noch ohne Buch. Sie haben alle Radfahren gelernt und essen, obwohl sie sehr lange die Beikost ablehnten. Die Es-wird-Stimme in uns flüstert meistens sehr leise und oft wird sie übertönt vom Geschrei der Normkurven, der Elternvergleiche und des Förderwahnsinns. Doch es lohnt sich, in uns hinein zu horchen, denn diese Stimme ist wichtig. Sie ist das Vertrauen, in dem unsere Kinder gut wachsen können. Sie ist der Gegenentwurf zum gesellschaftlichen Leistungsdruck. In dieser Stimme ist Raum für unverplante Kindheit, freies Spiel und eigene Wege. Wenn wir sie beachten, gewinnen wir als Eltern Freiheit und Gelassenheit.
Nach unserer Sportrunde um den See haben das Kind und ich übrigens das Mittagessen vorbereitet. Es gab Zucchini-Risotto aus eigener Ernte.
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