Bildung neu denken

Wir haben gerade mit der achten Woche des Lockdowns gestartet. Irgendwann in den nächsten Tagen erfahren wir, ob und wann unsere Kinder denn mal wieder ein Schulgebäude von innen sehen werden. Eins – so scheint es zumindest zum derzeitigen Stand – werden sie jedoch nicht haben: Unterricht nach Plan.

Noch gilt es nämlich als zu gefährlich, Kinder in Klassengröße zu beschulen. Solange wir keinen Impfstoff haben, wird sich daran nach derzeitigem Wissensstand auch nicht viel ändern können. Das heißt, unser Problem besteht nicht nur bis zu den Sommerferien, sondern für die nächsten achtzehn Monate. Und in Anbetracht dieser Tatsache finde ich, wir sollten die Zeit bis zum neuen Schuljahr nutzen und Bildung neu denken.

Glaubenssätze auf den Kopf gestellt

Bis vor kurzem galten Eltern, die ihre Kinder zu Hause beschulen wollten, wahlweise als religiöse Spinner oder alternativ-weltfremd. Abgesehen davon, dass sie etwas strafrechtlich Relevantes taten. Bisher wurden freie Lernkonzepte meistens als “nett, aber nicht durchführbar in unseren Schulen” abgetan. Freien Schulen eilte der Ruf voraus, dass die Kinder dort “nichts” lernen würden und eine Sammelstätte für die “Schwierigen” seien. Und nun stehen wir da. Unser in Zement gegossener Schultag nach Plan mit Frontalunterricht, Tischgruppenarbeit, Schulgebäudeanwesenheitspflicht und Lehrmaterial von der Stange funktioniert nicht mehr. Und auf einmal würden wir sie so sehr brauchen – die Konzepte fürs Freie Lernen und vor allem die für den digitalen Unterricht.

Doch mit Digitalisierung ist es ähnlich, wie mit dem Freien Lernen: Bis vor Kurzem galten Medien als Beschäftigung zweiter Klasse. Seinem Kindergartenkind ein Tablet in die Hand zu geben, war in etwa so geächtet, wie mit seinem Zwölfjährigen Eine zu rauchen. Die gute Mutter – das war Konsens – geht mit ihren Kindern in den Wald und nicht an die Konsole. Und nun wird beklagt, dass man Unterricht in Grundschulen nicht durch digitale Formate ersetzen kann, weil die Kinder dies nicht schaffen würden. Das trifft auf einen Teil der Grundschüler wahrscheinlich zu – während der andere spielend in der Lage wäre, den Lehrkräften bei der Einrichtung einer Lernplattform zu helfen. Diese großen Unterschiede haben nicht nur etwas mit bildungsnahen oder bildungsfernen Haushalten zutun, sondern auch damit, wie sehr sich Eltern von der kulturpessimistischen Debattenkultur haben bei der Medienerziehung leiten lassen.

Mediennutzung ist immer Lernerfahrung

Denn Kinder, die von klein auf an das Thema Mediennutzung herangeführt wurden, wie ans Lagerfeuer machen und das Benutzen eines Schnitzmessers (und ich halte beides für wichtige Kompetenzen, die Kinder lernen sollten), können im jungen Grundschulalter mit digitalen Formaten umgehen. Hier zum Beispiel kann auch das Kindergartenkind seinen Tanzkurs online weitermachen und verschiedene Videotelefon-Apps bedienen.

Medien als Werkzeug zum Lernen sind natürlich in Ordnung – so seit wenigen Wochen der neue Ton in der Debatte. Aber bitte nicht zum Daddeln. Und dieser Satz zeigt ein weiteres Problem, das wir in Deutschland haben, wenn wir über Bildung reden. Wir glauben, dass es Erfahrungen gibt, die diesbezüglich wertvoller sind, als andere. So scheint es seit einigen Wochen Konsens, dass es gut ist, wenn Kinder die Grundtechniken einer Lernplattform bedienen können. Aber diese Grundtechniken im Umgang mit Geräten darf es bitte nicht dadurch erlernen, dass es damit spielt.Denn “zocken” ist natürlich weiterhin schädliche Zeitverschwendung.

Games sind mehr als Zeitverschwendung

Wer so denkt, blendet die Frage aus, wie Kinder denn überhaupt Spaß und Selbstvertrauen im Umgang mit Medien entwickeln und natürlich tun sie es, wie sie es bei allen anderen Dingen tun: Durchs Spielen und Entdecken. Meine Kinder haben durch verschiedenste Games einen großen Schatz an Wissen (übrigens nicht nur über die Nutzung von Geräten) aufgebaut. Wer heute noch glaubt, Games seien sinnlose, dumm machende Zeitverschwendung, hat sich nie ernsthaft mit diesem Thema auseinandergesetzt.

Lernen findet überall statt und immer

Doch natürlich sind die kleinen Gamer nicht ab heute von selbst die Gewinner der Corona-Bildungsmisere. Denn allein das digitale Lernen wird uns nicht helfen. Es ist ein notwendiger Baustein, solange Schulen nicht in Vollbesetzung stattfinden können (und ich fürchte, das ist noch länger, als sich manch einer träumen lässt) – doch es braucht mehr. Natürlich brauchen wir dringen wieder die Ergänzung durch face-to-face Kontakte mit Lehrern und Klassenkameraden. Und wir brauchen viele neue Lernideen. Kürzlich habe bei einem Spaziergang mit den Kindern mehr über geometrische Formen gelernt, als in meiner gesamten Schulzeit (sorry liebe ehemalige Mathelehrer, isso). Wir haben Bio-Aufgaben draußen auf den Feldern und Wiesen gemacht und Englisch geübgt, weil das große Kind nicht warten konnte, bis die neue Folge von “The Mandalorian” auf Deutsch draußen war. Das Kindergartenkind hat beim Einsäen von Gemüse gelernt, dass das Ö von Möhren genauso ist, wie das O in ihrem Namen, nur mit zwei Strichen drauf und das Sandwichmädchen addiert dank der Online-Kniffel Sessions mit den Großeltern große Mengen an Zahlen schriftlich.

Lernen passiert an vielen Orten – bewusst oder unbewusst. Im Grunde immer. Wir müssen das nur erkennen und einplanen, wenn wir darüber nachdenken, wie wir Schule und Kita in den nächsten Monaten gestalten. Wenn wir dabei mutig, kreativ und kindzentriert vorgehen, muss es auch nicht zu einer Bildungskatastrophe kommen, wie sie zum Beispiel Kristina Schröder befürchtet.

6 Kommentare zu „Bildung neu denken“

  1. Liebe Daniela, vielen Dank für deinen Beitrag und deine Gedanken, die ich sehr bereichernd und befreiend empfinde! Mich würde sehr interessieren, was du an Apps, Spielen etc. empfiehlst und womit ihr als Familie gute Erfahrungen gemacht habt – das finde ich immer noch schwierig, bei der Fülle, die es da draußen gibt… Und wie ihr “Bildschirmzeit” handhabt – gibt es eine bestimmte Zeitspanne, bestimmte Aufgaben, ist das komplett flexibel?
    Liebe Grüße von the

    1. Hallo the,
      danke für deinen Beitrag. Das sind sehr komplexe Fragen und bitte sei nicht böse, dass ich diese nicht in Gänze in einem Kommentar beantworten kann. Ich werde dann eher zeitnah mal einen eigenen Beitrag dazu schreiben, weil es sich ja je nach Kind, Entwicklungsphase und Interesse stark unterscheidet. Wir haben bei allen drei Kindern so ab fünf gute Erfahrungen mit Minecraft (erstmal ohne Monster nur im Kreativmodus) gemacht. Ansonsten haben sie sehr unterschiedlich gespielt. Alle lieben Nintendo-Produkte (In der Mario Reihe ist für jede Alters- und Interessenklasse was dabei – ganz toll für die ganze Familie: Mario Party) und wir haben eine Fülle von Lern-Apps, manche besser, manche schlechter. Wir haben “Medienzeiten” in unserem Familienalltag und genauso feste Zeiten, in denen Medien komplett tabu sind. Dazwischen ist ein Raum für gewisse Flexibilität (und auch das variiert stark nach Alter und Entwicklung. Wir haben hier ein Kind, das könnte theoretisch wohl 24 Stunden freien Zugang haben und würde ihn nicht ausreizen, sondern kann gut aufhören. Ein anderes braucht sehr viel Unterstützung und auch technische Schranken). Es kommt aber auch sehr darauf an, was sie machen. Bei vielen Spielen macht zum Beispiel eine starre Zeitbegrenzung keinen Sinn. Da ist es besser, einen groben Richtwert zu geben und dann zum Beispiel zu sagen, dass nach dem nächsten Speicherpunkt Schluss sein muss.
      Liebe Grüße Daniela

  2. Mutig, kreativ und konzentriert…. Leider gibt es genügend Familien, die diese Kompetenzen gar nicht haben oder derzeit nicht haben. Oder in denen die technische Ausstattung gar nicht vorhanden ist. Ich hab Schüler, die keinen regelmäßigen Zugang zum Internet haben usw. Da hat auch nicht jeder ein Smartphone oder eine Konsole, entgegen jeder Vorurteile. Ich befürchte definitiv, dass die Schere zwischen Kindern aus Elternhäusern, die gut aufgestellt sind zu denen, die es eben nicht sind, deutlicher auseinander klafft als es sonst schon der Fall ist. Davon abgesehen existierende hier zumindest im Grundschulbereich viele Schulen bei der der Schultag nicht durch Frontalunterricht und maximal mal eine Gruppenarbeit geprägt ist. Im Gegenteil. Allerdings haben diese Konzepte jetzt auch das Nachsehen, denn unter der derzeitigen Lage wird kaum was anderes möglich sein.

    1. Liebe Melli, danke für deinen Kommentar. Ich möchte auf deine technische Anmerkung eingehen: ich bin der Meinung, dass im Zuge digitaler Bildungsmöglichkeiten auch Schüler unabhängig vom Geldbeutel und Interesse der Eltern ausgestattet werden müssten. Dann gäbe es diese Schere nämlich nicht.
      Und selbstverständlich ist der Schultag an unserer Grundschule auch nicht von Frontalunterricht und einer Gruppenarbeit geprägt. Ich bin immer wieder überrascht, was man aus meinen Artikeln so rauslesen kann.
      Es geht um das Schulsystem und wie es angelegt ist und nicht um die praktische Umsetzung, die vielerorts dank engagierter Lehrer ganz anders ist.

  3. Es liest sich halt locker und easy irgendwie… Und es liest sich so, als seien bei “richtigem” Vorgehen auch kaum Reibungsverluste zu befürchten. Meine Realität ist gerade eine andere. Kinder sind gerade mehr denn je abhängig von ihren Elternhäusern und da wird sich auch kurzfristig nichts dran ändern. Es nützt doch auch nichts, wenn Schülern die Ausstattung zur Verfügung gestellt bekommen, aber zu Hause dennoch eine adäquate Begleitung fehlt?
    Vielleicht lese ich da auch mehr raus, als Du eigentlich meinst.

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Fotos: Inka Englisch (Link)

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