Eltern sein, Familie leben

Ich habe mein Kind angebrüllt

Ja, ich habe mein Kind angebrüllt. Und zwar so richtig. Nicht lange. Ich habe keine minutenlangen Schimpftiraden losgelassen. Es nicht beleidigt. Es war eigentlich nur ein Satz. Doch in den habe ich so viel Gewicht gelegt. So viel Lautstärke. So viel Aggressivität.

Der Grund dafür war eigentlich nicht mal einer. Es war viel mehr die Tatsache, dass das Kind zur falschen Zeit ganz dringend das Bedürfnis nach Zuwendung hatte. Ganz unpassend. Und es hat es so vehement geäußert, dass meine Sicherungen für einen Moment gewackelt haben. Kurz danach ist der FI rausgesprungen, also der Notschalter und das System war glücklicherweise lahmgelegt. Doch der Satz – an sich kein schlimmer – war draußen. Viel zu laut. Viel zu aggressiv. Das Kind, sowieso in Not, in noch größeren Nöten. Rückgängig machen kann man sowas dann nicht mehr. Doch es bleiben einem noch immer genügend Möglichkeiten, damit umzugehen.

Brüllen ist sehr schambesetzt

Sein Kind anzubrüllen ist heute gesellschaftlich nicht mehr besonders hoch angesehen. Zumindest nicht in den Kreisen, in denen ich mich bewege. Und das ist gut so. Denn brüllen ist beängstigend. Im Brüllen liegt Aggressivität. Brüllen ist gewaltig und gewalttätig. Besonders in dem Machtgefälle, das zwischen Erwachsenen und kleinen Menschen herrscht. Wir sind ihnen in allem überlegen. Körperlich. Und auch sonst in jeder Hinsicht. Wir sind die Person, die eigentlich Sicherheit ausstrahlen sollte und Schutz. Wenn wir jedoch brüllen, werden wir bedrohlich. Brüllen schüchtert ein und brüllen verletzt. Und doch – brüllen kommt vor. Mittlerweile ist es für viele Eltern sehr schambesetzt, wenn sie einmal laut geworden sind. Eigentlich möchte keiner mehr solch eine Mutter oder solch ein Vater sein. Wir wären lieber immer zugewandt, liebevoll und auf Augenhöhe. Sind wir aber nicht. Das ist in diesen Momenten nicht immer schön für unsere Kinder. Wie nachhaltig unschön es wird, hängt jedoch davon ab, wie wir mit ihnen unmittelbar nach einem solchen Moment umgehen – und mit uns selbst.

Es ist verständlich, dass wir uns über uns selbst ärgern und uns schämen. Immerhin wollten wir es anders machen und häufig war unser Brüllen nicht einmal verhältnismäßig. Doch wir dürfen nicht in dieser Selbstanklage steckenbleiben. Denn solange wir das tun, sind wir im Ärger über uns selbst gefangen. Für unser Kind ist es aber wichtig, dass wir uns ihm zuwenden. Eine Entschuldigung, vielleicht eine Erklärung, wenn das Kind es zulassen kann, dann eine Umarmung helfen, die Distanz, die entstanden ist, wieder zu überbrücken. Wenn wir uns hingegen aus Scham oder Ärger über uns selbst vom Kind zurückziehen, erlebt dieses, neben dem Schmerz, angebrüllt worden zu sein, nun auch noch Einsamkeit. Von Kindern, die in ihrer Kindheit regelmäßig körperlicher oder psychischer Gewalt ausgesetzt waren, weiß man, dass das Gefühl hinterher mit der Erfahrung allein gelassen zu werden, ebenso traumatisch war, wie die Gewalterfahrung selbst.

Brüllen ist ein Ausdruck von kurzfristiger Überforderung

Vielleicht hilft es gegen die Scham und die Selbstanklage, wenn wir verstehen, was da eigentlich gerade in uns passiert ist. Oft ist das Brüllen ein Zeichen für Überforderung. Vielleicht war die Situation gerade stressig. Erwartungen haben nicht zusammengepasst. Äußerliche Faktoren haben für zusätzlichen Druck gesorgt. Oft kommt noch dazu, dass Erinnerungen an eigene Kindheitserfahrungen es uns noch schwieriger machen, angemessen zu reagieren. Wenn ich mit Eltern arbeite, die in bestimmten Situationen immer wieder brüllen, frage ich sie häufig, ob sie diese aus der eigenen Kindheit kennen. Nicht selten stellt sich heraus, dass sie selbst bei ähnlichem Verhalten früher angebrüllt worden – oder schlimmer noch – geschlagen.

Gerade wenn die Antwort unserer eigenen Eltern in bestimmten Situationen körperliche Gewalt war, stehen wir heute mit unseren eigenen Kindern unter enormem Stress. Nicht selten zuckt Vätern oder Müttern regelrecht die Hand, wenn Kinder etwas tun, für das sie früher geohrfeigt worden wären. Diesem inneren Impuls, der sich in uns festgefressen hat, nicht nachzugeben, ist unglaublich anstrengend. Wir wissen heute, dass sich solche Muster so tief einbrennen, dass sie in stressigen Situationen fast automatisch ablaufen. Je anstrengend eine Situation mit unseren Kindern ist, je stärker spüren wir den Impuls, so zu reagieren, wie wir es kennen. Allein das große Bemühen, es anders zu machen, setzt uns enorm unter Stress. Wenn wir also in Situationen brüllen, in denen wir früher geschlagen worden wären, ist das vor allem dem Versuch geschuldet, es anders zu machen. Es ist das schmerzhafte Zeichen eines Prozesses, in dem wir uns befinden. Und dieser Prozess ist ein guter. Wir dürfen also gnädig mit uns sein.

Die Verantwortung für die Situation übernehmen

Geschehen ist also geschehen und wir können es nicht ändern. Wir haben allerdings in der Hand, ob dieses Erlebnis nur im Moment unschön und verletzend für das Kind war oder sich nachhaltig auswirken kann. Wenn wir die Verantwortung für uns und die Situation übernehmen, das Kind nicht mit Schmerz und Einsamkeit allein lassen und in Verbindung zu ihm gehen, ist die blöde Situation am Ende vielleicht vor allem eine, von der wir lernen können. Für uns selbst ist es wichtig, hinterher zu schauen, was genau uns so gestresst hat. Waren wir generell überfordert? Können wir etwas verändern, damit wir beim nächsten Mal entspannter sind? Steckt hinter dem Erlebnis ein grundsätzliches Ärgernis im Familienalltag, das sich aufgestaut hat? Dann sollten wir da genauer hinsehen und es in einer guten Minute thematisieren. Kommen unsere eigenen Bedürfnisse zu kurz? Das sollte sie nicht. Oder geht es vor allem wirklich um alte Muster? Sollte dem so sein und sie uns sehr triggern, kann es eine gute Idee sein, sie einmal mit professioneller Unterstützung zu bearbeiten.

Nicht mit der Scham allein bleiben

Und dann finde ich es gut, über den Vorfall mit einer liebevollen und vertrauten erwachsenen Person zu sprechen. Mit einer Freundin, die nicht abwertet. Dem Partner oder der Partnerin. Der Nachbarin, die wir selbst auch schon haben brüllen hören, obwohl sie das eigentlich nicht möchte. Oder mit unserer Online-Community, in der wir Hilfe finden können. Es ist wichtig, auch über unsere Schattenseiten zu reden, damit sie sich nicht als Tabu unter unserem Teppich aufstauen und irgendwann zu ernsthaften Stolperfallen werden.

Fotos: Inka Englisch (Link)

Über mich:

Unternehmerin, Erziehungswissenschaftlerin, Familienberaterin, Autorin, dreifache Mama und vor allem für Sie und ihre Familie da.

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