Ich bewundere dich dafür, dass du dich so dermaßen nicht zuständig fühlen kannst. Diesen Satz sagte ich heute halb lachend, halb genervt in Richtung meines Mannes. Dieser saß mit Laptop am Esstisch, ignorierte die Krümel um sich herum und schrieb total vertieft an einem Artikel.
Nun wäre dieser Satz mancherorts vielleicht ein Fall für die Gleichstellungsbeauftragte. Oder für eine gute Paartherapie. In unserem Fall – ich kann alle beruhigen – ist es eine weitere Anekdote, über die wir zukünftig herzlich lachen werden, wenn mein Mann das nächste Mal die Krümel vom Tisch fegt.
Wir machen heute beide Homeoffice und während mein Mann sich in die publizistische Verarbeitung seiner Israelreise stürzt, bereite ich einen Vortrag vor und schreibe wie eine Besessene an gleich zwei Projektideen, von denen ich hoffe, dass sie Segen in sich tragen. Doch auf dem Weg zum Schreibtisch tue ich noch schnell dies und das. Betten aufschütteln. Katzenstreu wegsaugen. Einer Freundin am Telefon zehn Minuten meiner Zeit schenken. Mein Mann schreibt und schreibt. Wieso ist das so? Darüber gibt es viele Theorien. Evolution schreien die einen. Patriarchat rufen die anderen. Heute morgen ist es mir zu mühsam, dieser Frage nachzugehen. Ich widme mich lieber einer anderen. Ist es schlimm?
Ich ignoriere bei der Suche nach Antworten heute mal die Evolution (deren Antwort in etwa “is halt so” wäre) und meine feministischen Schwestern. Denn viel interessanter finde ich, ob es für mich persönlich schlimm ist. Gerade in diesem Moment. Auf den ersten Blick irgendwie schon. Denn ich bin seit Wochen im Jammermodus gefangen. Ich schaffe nichts (was in Anbetracht der Tatsache, dass meine Kinder noch leben und ich sie gerade acht Tage allein betreut habe, sowieso schon einen eigenen Artikel, nein ein ganzes Buch wert wäre). Ich trete auf der Stelle (manchmal hilft es, wenn Facebook einem anzeigt, was man vor einem Jahr geschrieben hat, um sich diesem Gedanken zu entledigen). Ich wäre gern schon viel weiter (mit was eigentlich?). Es läuft nicht (klar läuft es – manchmal rückwärts und bergab – aber es läuft).
Spätwinterblues und erdrückende weltpolitische Großwetterlage haben irgendwann in den letzten Wochen offensichtlich geheiratet und sich bei mir niedergelassen. Sie scheinen sich wohlzufühlen und haben Nachwuchs gezeugt. Ihre Tochter trägt den wunderschönen Namen Bitterkeit und sieht aus wie eine im Obstkorb verschimmelte Zitrone (für die sich mal wieder keiner zuständig gefühlt hat). Bitterkeit wächst schnell und mittlerweile steht sie mir oft im Weg. Sie verstellt meinen Blick auf das Gute und Schöne in meinem Leben und hindert mich daran, Dankbarkeit für das zu empfinden, was ich habe.
Also noch einmal die Frage: Ist es wirklich schlimm, dass ich heute morgen zehn Sekunden meiner wertvollen Zeit aufgebracht habe, um Krümel vom Esstisch zu fegen, fünf Betten auszuschütteln, ebenso viele Fenster zu öffnen und kurz Streu wegzusaugen? Es ist wie immer eine Frage der Betrachtungsweise. Wenn Bitterkeit im Weg rumsteht, dann schon. Denn dann ist all das eine himmelschreiende Ungerechtigkeit und jeder einzelne Krümel zementiert meine missliche Lage.
Wenn ich sie zur Seite schiebe, kann ich was anderes sehen. Ich bin so unglaublich privilegiert. Die meisten Menschen, mit denen ich zutun habe, können sich die Frage überhaupt nicht stellen, ob sie noch schnell den Tisch abwischen, die Betten aufschütteln und Streu saugen, bevor sie sich ihrer Arbeit widmen. Sie müssen auf Punkt irgendwo stehen oder sitzen. Während wir uns den vorgestrigen sturmfreien Tag teilten, in dem wir beide Homeoffice machten und uns mit der Betreuung der Kinder abwechselten, hatten unsere Freunde ganz andere Themen. Sie diskutierten nicht, wer wann wo mit seinem Laptop sitzen kann. Sie sind im Gesundheitswesen, bei der Bahn oder in Kitas tätig und werden an einem Sturmtag mehr denn je gebraucht. Es interessiert alle herzlich wenig, ob die Schule ihrer Kinder ausfällt.
Es ist ein riesen Geschenk in meinem Leben, dass ich es so führen kann, wie ich möchte. Wer kann sich schon morgens entscheiden, ob er jetzt zuerst an den Schreibtisch geht, Joghurt selbst macht oder eine Runde walkt? Wer kann sich bei der Ansage,dass die Schule wegen eines Orkans vorsorglich geschlossen bleibt, darüber freuen, dass an die Sicherheit der Kinder gedacht wird, statt in Panik zu geraten, weil man nicht zur Arbeit kann? Wer kann mal eben sagen, dass er das, was er halt am Vormittag am Schreibtisch nicht schafft, abends nachholt? Ganz ehrlich, in solch einem Konstrukt ist nicht viel Platz für Bitterkeit. Hier wird weder eine Gleichstellungsbeauftragte benötigt, noch ein Paartherapeut. Auch die Evolutionswissenschaftler dürfen fernbleiben. Es braucht nur einen realistischen Blick auf die Dinge wie sie sind. Einen, der das Schöne und Gute darin erkennen will. Und es braucht noch was – Annahme. Manchmal ist es vollkommen in Ordnung, etwas einfach anzunehmen, wie es ist. Krümel. Bettdecken. Sturmfrei. Es sind die Dinge, die unser Leben füllen.
Familienleben ist nichts, was wir am Reißbrett der gerechten Verteilung optimal entwerfen und dann umsetzen können. Diese Erwartung ist vielmehr eine Einbahnstraße ins Unglück. Familienleben ist das, was täglich passiert. Mit Lebensentwürfen, die wir wählen, gehen Folgen einher. Schöne. Weniger Schöne. Glück. Krümel. Liebe. Gernervtheit. Doch wir sollten nicht zulassen, dass Bitterkeit einzieht, denn sie ist zerstörerisch. Sie verzerrt unseren Blick und lenkt unseren Fokus weg von dem, was eigentlich wesentlich ist. Auf das, was wir an Geschenken haben.
Es ist nicht immer alles total furchtbar. Weder stehe ich vor der Entscheidung, mich endgültig meinem evolutionären Erbe zu ergeben und auf Ewig Krümel wegzuwischen, noch muss ich losziehen und die Fessel des Patriarchats an meinem Esstisch zerschlagen. Ich führe einfach nur mein Leben aus Pflichten und Privilegien. Zu Letzteren gehört auch, dass ich statt an meinem beiden Projekten und meinem Vortrag nun an einem ungeplanten Blogbeitrag geschrieben habe. Mein Mann war fokussiert. Er scheint seinen Artikel schon fertig geschrieben zu haben. Jedenfalls höre ich ihn unten durch die Zimmer gehen und die Fenster schließen, die ich vorhin aufgemacht habe.