Die Würde des Kindes ist unantastbar – auch ohne Elternschule und Grimme-Preis

Es scheint, als würden manche Themen sich hartnäckig halten. Als ich vor fast eineinhalb Jahren anfing, über den Film Elternschule zu schreiben, hätte ich nicht gedacht, dass ich mich über so lange Zeit hinweg in regelmäßigen Abständen wieder und wieder mit dem Thema beschäftigen muss. Doch es boten sich immer wieder Anlässe, aktiv Stellung in Sozialen Medien zu beziehen.

Zuletzt war es die Nominierung des Films für den Grimme-Preis. Das Grimme Institut begründete die Nominierung auf Twitter so: “Bei diesem rein beobachtenden Dokumentarfilm sind die Zuschauer*innen völlig auf sich allein gestellt, sie müssen selbst eine Haltung zu den dargestellten Erziehungsmethoden und deren Verfechtern finden. Das kann für die Zuschauer*innen ein anstrengender und schmerzhafter Prozess sein, aber es ist eben auch eine bemerkenswerte Leistung der Filmemacher, genau so einen Prozess auszulösen. Auch wenn die Therapieform teilweise brachial und vorgestrig sein mag – die öffentliche Diskussion über die Würde des Kindes im Anschluss an diesen Film wäre so nicht möglich gewesen.

Die seltsamen Beweggründe

Ich möchte nicht noch einmal wiederholen, was ich an dem Konzept der Gelsenkirchener Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik falsch finde. Das habe ich damals bereits ausgeführt. Auch die Diskussion darüber, ob es in Ordnung ist, einen solchen Film für einen der renommiertesten Fernsehpreise zu nominieren. Wenn die Jury dieser Meinung ist, darf sie das natürlich. Zu einem Leben in einem freien Land gehört auch, dass solche Gremien Entscheidungen treffen dürfen, die ich absolut ekelhaft finde. Worüber ich heute schreiben möchte, ist die Begründung der Jury.

“[…] die öffentliche Diskussion über die Würde des Kindes im Anschluss an diesen Film wäre so nicht möglich gewesen” Zunächst: Es ist immer möglich, über die Würde des Kindes zu sprechen. Glücklicherweise tun wir das auch mehr und mehr in diesem Land. In den vergangenen Jahren haben wir allein angesichts der Frage, ob Kinderrechte in der Verfassung verankert werden sollen, breit darüber diskutiert. Mehr noch: Meine Kolleginnen und Kollegen aus der bedürfnisorientierten Bloggerszene und aus dem Familienberatungsspektrum tun eigentlich nichts anderes. Auch hier auf dem Blog geht es immer wieder im Kern darum – um die unantastbare Würde des Kindes. Das Dilemma ist allerdings, dass wir zwar alle viel darüber schreiben und reden, doch dass wir eigentlich nie eindeutig festgelegt haben, was dies in der praktischen Umsetzung bedeutet. Die Würde des Kindes ist nach wie vor ein theoretisches Konstrukt, während im praktischen Alltag noch sehr viel passiert, was dieser entgegenläuft.

Über Würde wurde kaum gesprochen

Natürlich ist der Film “Elternschule” Praxisbeispiel, was dies gut illustriert. Wenn kleine Babys zum Schlafen in einen dunklen Raum geschoben werden, sich ein Therapeut im Park vor einem kleinen Mädchen versteckt, sodass dieses denken muss, er hätte es allein gelassen oder eine Krankenschwester ein Kleinkind zum Füttern mit ihren Beinen fixiert, müssen wir über Würde sprechen. Wenn ein Psychologe einen Vortrag hält, in dem er kleine Kinder als die größten Egoisten auf der Erde bezeichnet, denen es scheiß egal ist, ob ihre Eltern kaputt gehen, solange sie bekommen, was sie wollen, müssen wir über sehr, sehr viel sprechen – auch über Würde. Wenn eine Therapeutin grinsend erklärt, das (durch Fluchterfahrung und Depression der Mutter traumatisierte) Mädchen sei nun keine Prinzessin mehr, müssen wir über Würde sprechen. Wenn ein Lehrvideo gezeigt wird, in dem ein Kleinkind das Essen, was ihm vorher reingestopft wurde, wieder rausbricht und der Vortragende es mit “und irgendwann schnapp ich ihn mir und stopfe ihn wie eine Weihnachtsgans…) kommentiert, dann müssen wir über Würde sprechen. Und über Gewalt. Wenn all das über Kinoleinwände und TV-Bildschirme läuft, dann müssen wir über Würde sprechen.

Doch der Witz ist, wir haben gar nicht so viel über Würde gesprochen. Klar, war sie meistens das Überthema. Natürlich wurde gerade von Seiten von uns Kritikern immer wieder darauf hingewiesen, dass hier die Würde des Kindes verletzt wird und soweit ich weiß, gab es aus dieser Motivation heraus sogar Strafanzeigen gegen die Gelsenkirchener Klinik. Doch eigentlich haben wir über etwas anderes gesprochen. Nämlich über Erziehung. Denn ein großes Problem des Films Elternschule war von Anfang an, dass er als Film über gelingende Erziehung vermarktet wurde. Übrigens von den angeblich so bemerkenswert neutralen und rein beobachtenden Filmemachern.

Kein Film über Erziehung

Noch bevor der Film einem großen Publikum zugänglich gemacht wurde, warben die Filmemachern mit Sätzen wie: “So gelingt Erziehung” und “jeder der Kinder hat, sollte diesen Film gesehen haben”. Viele deutsche Journalisten schlossen sich an. Ich gebe zu, dass die Debatte auch von Seiten der Kritiker unnötig aufgeheizt wurde, weil diese sich bereits aufgrund solcher Aussagen und weniger gesehener Filmszenen aus den Trailern ein Urteil erlaubt haben. Etwas Besonnenheit wäre hier weise gewesen. Doch in der Sache stehe ich weiterhin zu dem, was ich damals schon gesagt habe. Bei Elternschule handelt es sich nicht um einen Film über Erziehung. Es ist ein Film über ein Therapieverfahren, das für sehr stark belastete Familien entwickelt wurde. Ein auch unter Therapeuten sehr umstrittenes Verfahren dazu (siehe bspw. die Stellungnahmen der DGKJP oder der DGSPJ). Diese Ausnahmesituationen und die Wege, da rauszukommen, als generelle Erziehungstips zu generieren zeigt, dass wir noch immer viel zu wenig über Kinder sprechen.Und das zu wenig von dem verstanden wurde, was eigentlich bekannt ist.

Die traurige Erkenntnis die bleibt

Die Diskussion um diesen Film hat viel offenbart. Unter anderem, dass wir insgeheim noch tief in der schwarzen Pädagogik stecken, zumindest was unser Bild von Kindern angeht. Wir sehen immer noch potentielle kleine Haustyrannen vor uns, wenn wir einen kleinen Menschen betrachten. Dass er die gleiche unantastbare Würde besitzt, die auch wir besitzen, ist in vielen Köpfen noch nicht angekommen. Genauso wenig scheinen wir in den letzten 100 Jahren über das Wesen von Kindern gelernt zu haben. Auch die neue Elterngeneration, die vieles anders macht, wird pauschal belächelt oder abgewertet. Mit ihren Werten und Motiven jedoch setzen sich die wenigsten Kritiker ernsthaft auseinander. Noch immer lassen wir zu, dass der schwere Rucksack der schwarzen Pädagogik, der NS-Zeit und der staatlichen Indoktrination von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ein Film, der dies deutlich zeigt, hätte wirklich einen Preis verdient.

Fotos: Inka Englisch (Link)

Über mich:

Unternehmerin, Erziehungswissenschaftlerin, Familienberaterin, Autorin, dreifache Mama und vor allem für Sie und ihre Familie da.

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