Das gibt es doch nicht, denke ich. Den ganzen Vormittag hat die Sonne unseren Garten fast schon frühlingshaft leuchten lassen und nun, pünktlich zum Sternsingen, regnet es. Den beiden Kindern, die ich zum Treffpunkt begleite, ist das egal.
Sie tragen ihre Kronen und Umhänge mit Stolz. Sie haben sich nicht verkleidet, denn sie sind Sternsinger. Für die nächsten Tage ist es ihre Aufgabe, die Botschaft von Friede und Hoffnung in die Welt zu tragen. Sie werden gebraucht. Die Welt braucht sie – andere Kinder auf dieser Welt brauchen sie. Deshalb machen sie sich auf den Weg. Sie trotzen Nieselregen und Kälte, tragen tapfer Schild, Spendendose und Stern und sagen ihre Zeilen auf.
Auf dem Heimweg frage ich mich, warum ich jedes Jahr aufs Neue heulen muss, wenn ich sie losschicke. Ich habe keine Angst, dass ihnen etwas passiert, denn ich übergebe sie in gute Hände. Und doch, jedes Mal, spätestens wenn wir beim Aussendungsgottesdienst Geh, geh, geh singen, muss ich das erste mal heimlich ein paar Tränchen wegwischen. Denn die Tatsache, dass Kinder überall, an so vielen Orten, sich auf den Weg machen, um Häuser zu segnen, etwas von Jesus zu erzählen und Geld für andere Kinder zu sammeln, berührt mich so tief. Dieser katholische Brauch, der bei uns mittlerweile ökumenisch stattfindet, trifft einen Punkt in mir, der im Alltag oft verschüttet ist. Diese Kinder als Teil einer größeren Sache zu sehen, die noch dazu einfach gut ist, gibt mir Hoffnung. Sie gibt dem naiven Glauben in mir Raum, dass die Kinder dieser Welt vielleicht doch noch gerade rücken können, was wir und alle vor uns fleißig verzocken.
Die Romantikerin in mir darf an solchen Tagen die Oberhand haben. Die, die findet, dass unsere Kinder sowieso von Grund auf gut und liebenswert sind. Das Mädchen in mir, das sich so oft gegen Zyniker wehren muss, dass ich es selbst manchmal nur noch belächele, erhält Wasser auf die Mühlen. An solchen Tagen möchte ich all die, die unsere Kinder kleine Tyrannen nennen, zusammenrufen und ihnen die Sternsinger zeigen. Ich möchte, dass sie mit ihnen vier Ferientage verschenken, durch Regen und Kälte laufen und Spruchzeilen auswendig lernen – und mir dann nochmal erklären, warum diese Kinder tyrannisch und egoistisch sind. Ich möchte mit ihnen die Doppeldeutigkeiten von Respekt und Gehorsam diskutieren, während wir uns Blasen an die Füße laufen bei dem Versuch, mit den Kindern Schritt zu halten. Doch natürlich weiß ich, dass es so einfach nicht ist.
Denn der Antrieb, der die Kinder laufen lässt, ist nicht nur, dass sie von Herzen gut sind. Ich glaube schon, das sie das auf ihre Art sind. Doch ein gutes Herz zu haben heißt ja nicht, immer selbstlos zu sein. Kinder können unglaublich selbstbezogen handeln. Nicht, weil sie kleine Egoisten sind, sondern weil ihr genetisches Programm einen gewissen Überlebensinstinkt eingerichtet hat. Und, weil wir ihnen früh anerziehen, dass es um Rangfolge, Belohnung und Leistung geht. Der Antrieb ist aber auch nicht die Schokolade, die sie wirklich reichlich abgegriffen haben, in diesem Jahr. Während ich noch hin- und her überlegte, was es eigentlich ist, was die Kinder Regen, Kälte und lange Wege trotzen lässt, hat es mir eine Bloggerkollegin schon gesagt. Sandra von den 7geisslein hatte schon immer ein so viel besseres Gespür für Worte, als ich. Sie machen es, weil sie gebraucht werden, sagte sie mir, als wir uns über unsere sternsingenden Kinder austauschen. Ja – das ist es. So einfach. So logisch. So leicht zu übersehen.
Kinder sind in unserer Gesellschaft oft vor allem passive Konsumenten. Ich glaube, Teile der Probleme, die manche beklagen, rühren genau davon. Wir setzen unseren Kindern oft eine Welt vor und in der sollen sie dann bitte schön mitschwimmen. Und damit bringen wir ihnen genau die Haltung zum Leben bei, die bei Erwachsenen dafür sorgt, dass sie nicht mehr so oft einfach loslaufen und Hoffnung verbreiten. Wir vermitteln ihnen den Eindruck, sowieso nichts am Gang der Welt ändern zu können. Wir selbst haben das schon so sehr verinnerlicht, dass wir auf idealistische Vorstellungen junger Menschen nur noch mit einem lauen Lächeln reagieren. Unsere Lebenserfahrung hat uns scheinbar gelehrt, dass kleine Beiträge verpuffen und wertlos sind. Dabei zeigt uns ein Blick in die Geschichte – zum Beispiel in die unseres Landes – ja etwas ganz anderes. Nicht jede Kleinigkeit ändert gleich den Weltenlauf oder das Schicksal eines geteilten Staates, aber vielleicht das Familienklima oder die Stimmung in der Schulklasse – was für ein toller Anfang. Was für ein Geschenk, dazu beitragen zu dürfen. Gebraucht zu werden.
Zwei Stunden, nachdem ich die beiden Kinder abgegeben habe, klingelt mein Handy. Das kleine Mädchen hat genug und möchte abgeholt werden. Als gerade frisch fünf Jahre alt gewordenes Kind hat sie dazu jedes Recht. Ich halte ihre Hand, während sie todmüde neben mir hertrottet. Wir treffen eine andere Sternsingergruppe. Der Mann, der sie begleitet, schaut mein kleines Mädchen liebevoll an, streichelt über ihren Umhang und bedankt sich bei ihr für ihren Einsatz. Um nicht als arme Irre dazustehen, verkneife ich mir die Rührungstränchen, die schon wieder kullern wollen. Bis morgen, sagt er. Ja, sagt das kleine Mädchen zu mir, morgen laufe ich wieder mit, bis ich müde bin und Heimweh kriege. Und dann holst du mich wieder ab.
Und so passiert es. Während das große Mädchen ganze Tage damit verbringt, von Haus zu Haus zu ziehen und kein Nieselregen, keine Kälte und keine Müdigkeit sie und ihre Freundinnen stoppen können, hole ich die Kleine wieder nach zwei Stunden ab. Vor unserer Haustür treffen wir andere Kinder, die auch unterwegs sind, um Geld zu sammeln. Nicht mit Kronen, sondern mit Latzhosen und Arbeitskleidung. Zusammen mit den Männern und Frauen der Freiwilligen Feuerwehr holen sie unsere Weihnachtsbäume ab und sammeln Geld für ihre Arbeit. Wir verschieben die Aussicht auf Tee und Wärme für einen kleinen Moment und schauen zu, wie die Bäume aufgeladen werden und werfen diesmal selbst Münzen in eine Spendendose. Schließlich ist es wichtig, dass es Menschen gibt, die ihre Freizeit, ihre Nachtruhe, ihre Gesundheit und im Notfall gar ihr Leben opfern würden, um mich zu retten, zu schützen, zu bergen, mein Feuer zu löschen. Ich will ein Stück mit der Prinzessin laufen, sagt das Mädchen, das nicht älter als meine kleine Tochter ist. Ich bin eine Sternsingerin, antwortet meine Kleine strahlend. Und ich ein Feuerwehrmädchen, sagt das andere Kind nicht weniger stolz. Und zusammen sind sie zwei kleine Menschen, die diese Welt dringend braucht.