Eltern sein, Familie leben

Bedürfnisorientierung: Vorurteile und Missverständnisse

In letzter Zeit nehmen sie ein bisschen überhand, die unreflektiert hinausgepolterten Vorurteile gegenüber Eltern, die Bedürfnisorientierung leben. Eigentlich möchte ich auf dieses Gepoltere und Geschrei gar nicht antworten. Ich habe das Gefühl, egal, was ich oder was andere schreiben, es löst den Knoten doch nicht.

Wenn ich einen ehrlichen Blick auf das finde, was in sozialen Netzwerken so über Bedürfnisorientierung geschrieben wird, dann muss ich auch offen zugeben, dass viele Protagonisten der Szene selbst ihren Teil dazu beitragen, dass unsere pädagogische Haltung falsch aufgefasst wird.

Bedürfnisorientierung wird zur Wunschorientierung

Bei Bedürfnisorientierung kriegen die Kinder alles, was sie wollen. Das ist einer der Sätze, die oft zu lesen sind. Ein klares Nein ist nicht mehr erlaubt. Das ist oft ein weiterer. Beides ist aus meiner Sicht nicht richtig. Jesper Juul sagte einmal in einem Interview sinngemäß, dass Kinder häufig zu viel von dem bekämen, was sie wollten, aber zu wenig von dem, was sie brauchen. Ich finde, darin ist das Missverständnis zwischen Wünschen und Bedürfnissen gut zusammengefasst. Jedem Wunsch nachgeben – vielleicht aufgrund von falschen Glaubenssätzen, vielleicht aufgrund von wenig Kraft zum Nein sagen oder aufgrund eines schlechten Gewissens – das ist das Gegenteil von Bedürfnisorientierung. Es ist eher eine Ablenkung von dem, worum es eigentlich geht. Viel wichtiger finde ich es, selbst mit sich im Reinen zu sein und zu wissen, warum man einem Wunsch entsprechen möchte oder warum man das eben gerade in diesem Moment oder dauerhaft nicht möchte. Klarheit gehört für mich zu den wichtigsten Bausteinen der Bedürfnisorientierung – überhaupt zum wichtigsten Baustein des Eltern seins. Und zu Klarheit gehört ein klares Nein, wenn wir es meinen und ein Ja, das von Herzen kommt und nicht mit zusammengepressten Lippen.

Bedürfnisorientierung schließt alle Bedürfnisse mit ein

Bei der Bedürfnisorientierung geht es nur ums Kind. Das ist ein weiteres Missverständnis. Dieses Missverständnis führt oft zu einer völligen Überforderung von Eltern. Besonders von Müttern, die darunter bis zum Burnout leiden. Das stimmt leider, ich habe es in meiner professionellen Arbeit mehr als einmal erlebt. Allerdings liegt das nicht am eigentlichen Konzept der Bedürfnisorientierung, sondern daran, dass es falsch verstanden wurde. Wenn Bedürfnisorientierung die Bedürfnisse der Erwachsenen nicht mit einschließt, hebelt sie sich selbst aus. Denn niemand kann ein gutes Leben führen und feinfühlig auf andere eingehen, wenn er seine eigenen Bedürfnisse dauerhaft nach hinten schiebt. Wenn wir hart gegen uns selbst sind, werden wir hart gegenüber anderen. Dann merken wir gar nicht mehr, was sie gerade brauchen.

Toxische Glaubenssätze

Neuere Literatur zu diesem Thema hat diesen Punkt gut im Blick. Es gibt immer mehr Protagonistinnen dieser Szene, die völlig klar machen, dass die Bedürfnisse aller Familienmitglieder gleichberechtigt sind und dass es durchaus sein kann, dass sich Eltern zuerst eines ihrer Bedürfnisse erfüllen müssen, bevor sie wieder auf ihre Kinder eingehen können. Es ist ein ständiges Abwägen, Ausbalancieren, Testen – und natürlich auch Scheitern.

Was uns tatsächlich drückt ist aber, dass viele Jahre lang wirklich was anderes propagiert wurde, wenn es darum ging, Kinder liebevoll zu begleiten. Es gibt nicht wenige Ratgeber, Blogbeiträge und Zeitschriftenartikel, in denen sich Sätze wie: “Ihr Kind kann sich nicht selbst helfen, daher müssen Sie Ihre Bedürfnisse für eine Weile zurückstellen” finden. Und sie sind toxisch.

Zwischen Babys und größeren Kindern unterscheiden

Selbstverständlich gibt es Situationen im Familienalltag, in denen sie wahr sind. Kleine Babys brauchen uns im Grunde rund um die Uhr und es macht absolut Sinn, ihre Bedürfnisse schnell zu beantworten. Doch umso älter Kinder werden, desto eher können sie auch einen Aufschub von Bedürfnissen aushalten, wenn es gerade anders besser passt. Natürlich gibt es selbst bei ganz großen Kindern noch Extremsituationen, die tatsächlich verlangen, dass wir sofort und bedingungslos alles stehen und liegen lassen, um für sie da zu sein. Und ich kenne keine Mutter und keinen Vater, der nicht instinktiv in der Lage wäre, diese Momente zu erspüren und entsprechend zu handeln. An dieser Stelle haben wir keine Baustelle. Wir müssen keine toxischen Sätze schreiben, um sicherzustellen, dass große Kinder in Extremsituationen bekommen, was sie brauchen. Viel problematischer ist es, wenn Eltern (häufig sind es Mütter), Glaubenssätze verinnerlicht haben, die es ihnen schwer machen, zwischen solchen Momenten und dem ganz normalen Alltag zu unterscheiden – und die gleichzeitig verlernt haben, auf sich selbst zu hören.

Eigene Wege finden

Zwischen diesen beiden Polen gibt es dann noch die Bedürfnisse des Alltags. Da ist beispielsweise das Bedürfnis des Kindergartenkindes nach Begleitung in der Nacht. Es braucht Sicherheit, um behütet schlafen zu können und uns Erwachsene, zum Regulieren von alterstypischen Ängsten in dieser Phase. Das sind starke Bedürfnisse. Daneben stehen gleichberechtigt die Bedürfnisse der Eltern, die schon so viele Jahre auf Schlaf verzichtet haben, die Rückenschmerzen vom vielen gekrümmten Liegen im von Kindern überbevölkerten Elternbett haben und die einfach gern mal wieder Zweisamkeit hätten. Auch das ist wichtig und darf ernstgenommen werden. Für solche Situationen sollte es keine Lösungen geben, die zusammengekniffene Mundwinkel auf Elternseite oder das Alleinbleiben mit Bedürfnissen auf Kinderseite beinhalten. Hier ist Kreativität gefragt. Und oft auch unkonventionelles Denken.

Lösungen für solche Fragen erarbeite ich mit Familien immer individuell. Das kann die liebevolle Einschlafbegleitung im Kinderbett sein. Es kann die Matratze auf dem Boden im Elternschlafzimmer sein und das finden eines neuen Ortes für Zweisamkeit unter den Eltern. Es können neue Rituale, Kuscheltiere, Traumreisen oder für eine Weile komplette Veränderungen der Schlafsituation sein. Die Hauptsache ist hierbei, dass alle am Ende zufrieden sind und die gefundene Lösung für eine Weile tragbar ist. Auf jeden Fall ist es wichtig, hier keine Schubladen im Kopf zu haben, sondern frei an solch ein Thema ranzugehen.

Sich selbst wichtig nehmen

Sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu kennen und wertzuschätzen, ist für mich zusammengefasst der wichtigste Baustein der Bedürfnisorientierung. Es lohnt sich immer wieder, daran zu arbeiten.

Fotos: Inka Englisch (Link)

Über mich:

Unternehmerin, Erziehungswissenschaftlerin, Familienberaterin, Autorin, dreifache Mama und vor allem für Sie und ihre Familie da.

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