Ist das okay, dass ihre Kleine sich einschließt, fragt mich die Frau, die gerade die Dusche betreten hat. Ich sitze vor einer Kabine und warte – auf mein Kind, das dort duscht. So klein ist sie gar nicht mehr, sage ich, normalerweise macht sie das allein. Nur gerade ist sie traurig. Ach, sagt die Frau, und dann warten sie. Wie schön. Ja – wie schön, denke ich.
Und ein bisschen wehmütig denke ich auch an mein Bier, das jetzt ohne mich in der Abendsonne vorm Wohnwagen steht. Aber so ist das halt beim Kinder ins Leben begleiten. Es kommt immer anders.
Eine halbe Stunde später ist das kindliche Drama, das uns unter die Dusche geführt hat, vergessen. Das Kind spielt wieder und ich spüle ein paar Gläser ab. Am Spülbecken treffe ich die Frau aus der Dusche wieder. Eine Mutter, die sich vor die Dusche setzt, weil ich traurig bin, sagt sie, ich denke die ganze Zeit, wenn ich so eine gehabt hätte, wäre vieles anders gelaufen. Dann schweigt sie und spült ihre Teller ab. Ich schweige auch. Und denke nach.
Wir schreiben und sprechen so viel über den richtigen Weg Kinder ins Leben zu begleiten. Sollen wir bedürfnisorientiert leben oder liebevoll erziehen? Brauchen unsere Kinder Grenzen und Strafen oder müssen wir einfach nur mehr mit ihnen spielen? Doch kommt es am Ende wirklich auf diese Fragen an? Sind es nicht vielleicht die kleinen Dinge, an denen sich am Ende messen wird, wie viel wir unseren Kindern mit ins Leben gegeben haben?
In welchen Momenten merken unsere Kinder, dass sie wertvoll für uns sind? Sind es nicht die, in denen wir das wohlverdiente Feierabendbier stehen lassen und uns vor eine langweilige, dunkelgelbe Duschkabine setzen? Oder die Zeiten, in denen wir mit Kotzschüsseln stundenlang an ihren Betten sitzen, statt einen Eimer hinzustellen und selbst wieder schlafen zu gehen? Ich denke, es sind die Situationen, in denen wir sie nicht mit ihrem Kummer, ihrer Angst, ihren Sorgen oder ihren Leiden alleine lassen. Es sind Momente, in denen wir zeigen, dass wir einfach da sein wollen. Die sind es am Ende vielleicht, die den größten Unterschied machen.
Svenja von meinesvenja schrieb kürzlich auf Instagram etwas sehr berührendes über die vielen Stunden, die sie in ihre Kinder investiert hat. Sie erwähnte auch sinngemäß, dass man 1000 Stunden anwesend sein muss, um in der Viertelstunde da zu sein, in der es wichtig ist. Ich gebe ihr recht. Ich selbst lebe nach dieser Philosophie. Kinder ins Leben begleiten – das bedeutet für mich, präsent zu sein. Doch nicht jeder kann das so viele Stunden. Und ich finde, wichtiger als die Anwesenheit ist die Art, wie wir auftreten, wenn die wichtige Viertelstunde gekommen ist. Sind wir offen für ihr Thema, auch wenn es uns pillepalle erscheint? Opfern wir dafür unsere abendliche Freizeit? Ich gestehe, letzteres fällt mir unglaublich schwer. Ich muss mir in solchen Situationen sehr bewusst vor Augen führen, wie groß der Unterschied ist, den wertvolle Kleinigkeiten machen können.
Gespräche wie die mit der Frau, die es nicht so schön hatte, helfen mir dabei. Sie hat mir noch mehr von sich erzählt – und natürlich ging es in ihrer Kindheit nicht nur um die Frage, ob ihre Mutter sie emotional begleiten konnte. Und doch ist dieser Satz bei mir hängen geblieben. Ich nehme ihn als Auftrag mit. Ich sehe ihn vor meinem geistigen Auge, wenn ein Kind reden möchte, während ich mein alkoholfreies Mixgetränk in der Abendsonne schlürfe. Es fällt mir dann trotzdem nicht leicht, mein Buch wegzulegen und zu zuhören. Denn das Auftanken am Abend hat in meinem Leben eine wichtige Funktion. Ich erlaube mir auch, nach einigen Minuten zu entscheiden, WIE wichtig das Gespräch ist – und es notfalls um meiner selbst willen abzukürzen. Doch es hilft mir den Frust auszuhalten, den ich in solchen Situationen empfinde, wenn es eben wichtig ist.
Es ist für mich, genau genommen, ja kein großer Act, noch einmal zehn Minuten präsent zu sein. Das Getränk läuft nicht weg, das Buch auch nicht und die Sonne geht jeden Abend unter. Für mein Kind ist es jedoch vielleicht das kleine Steinchen im Seelenmosaik, das alles bunter macht. Dieses Steinchen kann das Zuhören sein. Es kann das Sitzen vor der Duschkabine sein oder aber die in die Brotdose geschmuggelte Lieblingssüßigkeit. Diese Steinchen sind keine großen Heldentaten, die uns stundenlang fordern. Es sind kleine Gesten, die aussagen, dass die kleinen Menschen für uns wertvoll sind. Alltägliche Taten gewöhnlicher Menschen, würde Gandalf der Graue wohl dazu sagen. Und die hatten bekanntlich schon immer das Potential, die Welt zu verändern. Ich glaube, Kinder ins Leben begleiten ist das Suchen und Bewahren dieser kleinen, gewöhnlichen Steinchen.
Ein sehr wertvoller Artikel!