Meine Hand ist so kalt, dass sie schmerzt und doch halte ich tapfer weiter die kleine Rose umklammert, die ich auf meinem Sitzplatz in der Kapelle vorgefunden habe. Die andere Hand liegt in der meines Mannes, der mit mir zusammen den kleinen Fußweg von der Kapelle hinauf zum Hügel läuft. Ich schaue auf meine Schuhe, denn ich will den Kopf nicht heben. Zu viele Menschen stehen rechts und links an den Seiten und bilden ein Spalier, durch das wir laufen. Viele scheinen mir fremd zu sein. Andere sind vertraute Gesichter aus Kindertagen. Ich sollte heute gar nicht hier sein, schießt es mir durch den Kopf. Nicht an diesem Ort. Eigentlich sollte ich unten im Dorf sein. In der warmen Stube meiner Großeltern, wo Kuchen auf dem Tisch steht und wo Oma Kaffee in die Tassen ihres alten Services mit den orangefarbenen Punkten gießt.
Doch Oma gießt heute keinen Kaffee in ihre Tassen. Sie läuft vor mir. Zusammen mit meiner Tante und meinem Onkel. Und vor ihr, da laufen die Männer der freiwilligen Feuerwehr. Sie haben vorne gestanden, die ganze Zeit, während der Pfarrer gebetet und einer ihrer Kameraden gesprochen hat. Regungslos. Und dann sind sie als erstes los gelaufen. Wie man das so macht, wenn ein alter Feuerwehrmann auf seine letzte Reise geht.
Es ist unfair, dass ich hier sein muss, denke ich. Ich will in Omas Stube sitzen und mit Opa Vanillekipferl essen. Ich habe so tapfer den dunklen November überstanden, habe so viel gearbeitet, mich um zwei kleine Kinder gekümmert und ein Haus renoviert. Meinen Mann nie gesehen und jetzt, jetzt wollte ich eigentlich einfach eine Adventszeit haben, die so gemütlich ist, wie sie nur sein kann. Diese gemütliche Adventszeit, die wollte Opa auch. Tief in alten Traditionen verwurzelt, hatte er am Totensonntag seine Eltern und Schwiegereltern geehrt und das Haus kahl gelassen. Doch danach, da hatte er die Kiste mit der Deko vom Dachboden geholt und Oma geholfen, das Haus zu schmücken. Schließlich sollte alles schön sein, wenn es ein paar Tage später endlich Advent werden würde. Er konnte ja nicht wissen, dass er ihn nicht mehr erleben würde, diesen 1. Advent.
Und nun trauerten wir. Es wird der Tag kommen, hatte der Pfarrer gesagt, da wird sich ihre Trauer in Dankbarkeit verwandeln. Ich wusste, dass er Recht hatte, denn es war nicht mein erster Abschied. Doch dieser Tag war noch weit weg. Schließlich begann ich gerade erst zu realisieren, was da eigentlich gerade passiert war, dass unserer Familie ihren Kern verloren hatte. Einfach so, ohne Vorwarnung, ohne Anzeichen, ohne eine Gelegenheit zum Abschiednehmen. Auf einmal saß er nicht mehr auf seiner Eckbank, der kräftige Mann. Seine laute Stimme schwang nicht mehr durchs Haus. Seine großen Hände legten sich nicht mehr um mich zur Begrüßung und er bewirtete nicht mehr voll Freude und Überschwang Gäste, die bei ihm jederzeit ein- und ausgehen konnten.
Wenn wir diese Woche den Ewigkeitssonntag begehen, dann ist mein Opa genau sieben Jahre nicht mehr bei uns. Die Trauer ist der Dankbarkeit gewichen. Zumindest meistens. Wenn ich an ihn denke, dann denke ich an den großen Mann, der auf seiner Bank saß. Ich denke an unzählige Mahlzeiten, die wir dort gemeinsam zu uns genommen haben. An seine Freude am Essen, die er mir definitiv vererbt hat und ich denke an seinen Überschwang. Seinen Überschwang an Liebe, an Gastfreundschaft, an Genussfähigkeit und an Geschichten, die er erzählen konnte. Ich denke daran, dass er von allem etwas mehr war, als andere. Auch daran, dass sein Überschwang auch mal ein Überschwang aus Ärger werden konnte, der aber nie lange anhielt, denke ich heute mit einem Lächeln. Ich bin dankbar für geborgene Kindertage, für Nestwärme, für ausufernde Weihnachtsfeiern und eine Residenz im Sommer. Dafür, dass er uns selten in der heißen Sonne den steilen Berg zum Schwimmbad hochlaufen ließ, sondern uns meistens fuhr und an meine gemeinsame Zeit mit ihm in Polen, dem Heimatland seines Stiefvaters, das ich dank ihm kennenlernen durfte.
Doch, dass die Trauer der Dankbarkeit gewichen ist, das heißt nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Sie macht nur Platz. Meistens jedenfalls. Und doch begleitet sie mich. Immer mal wieder, besonders im November, wenn sich der Tag wieder jährt, an dem mich mein Bruder früh morgens anrief und an dem ich nicht glauben konnte, was er mir zu sagen hatte. Ich glaube, die Trauer ist, wenn wir sie einmal kennengelernt haben, eine Lebensbegleiterin. Manchmal ist sie wie ein Partner und geht mit uns durch jeden einzelnen Tag. Dann wieder ist sie wie eine gute Freundin aus Kindertagen, die uns gelegentlich besucht und mit der wir ein paar intensive Stunden verbringen.
Unsere Vorstellung von Trauer ist oft eine sehr rationale. Eine die den Logiken folgt, denen sich unser Alltag viel zu oft unterwirft. Trauer darf demnach ihren Platz in unserem Leben haben. Aber bitte nicht zu lang und bitte nicht zu intensiv. Trauerprozesse sollen irgendwann abgeschlossen sein, sonst gelten sie als pathologisch. Trauernde halten uns auf, in unserer durchstrukturierten Welt. Doch die Trauer hat ihre eigene Logik und die befindet sich außerhalb der Gesetzmäßigkeiten unserer Gesellschaft, denn Trauer ist eigentlich nichts anderes, als ein Ausdruck von Liebe. Wer sind wir denn, diesen ganz persönlichen Prozess von anderen zu bewerten und für beendet zu erklären? Die Liebe hört niemals auf. Vielleicht sollten wir diesen Satz von Paulus mitdenken, wenn wir uns über Trauer Gedanken machen.
Trauer bedeutet, jemanden zu vermissen, den man geliebt hat. Irgendwann kommen wir zwangsläufig an den Punkt, an dem das Vermissen nicht mehr unser Hauptgedanke an jedem Tag ist, denn es ist nicht nur eine Phrase, dass das Leben weitergeht. Seit mein Opa nicht mehr da ist, sind neue Kinder in unsere Familie gekommen und weitere geliebte Menschen gegangen. Einige von uns sind umgezogen, haben geheiratet, sind in der Welt rumgereist, haben neue Partner gefunden. Sein Haus wurde inzwischen verkauft und unser Familiengefüge hat sich verändert. Es hat inzwischen viele Adventssonntage ohne ihn gegeben und Weihnachtsfeiern, Jahreswechsel und Geburtstage. Manchmal scheint es mir, als sei es Ewigkeiten her, dass er mit uns Frühling, Sommer, Herbst und Winter geteilt hat. Doch dann kommen wieder Tage, da sehe ich ihn klar vor mir und dann habe ich Sehnsucht. Ich sehne mich dann nach unbeschwerteren Tagen, nach der Leichtigkeit der Sommerferien in seinem Haus und nach der warmen Gemütlichkeit der Weihnachtsfeiertage. In diesen Momenten würde ich alles darum geben, noch einmal dort zu sein und noch ein paar Worte mit ihm zu sprechen, über seinen derben Humor zu lachen und mit ihm eine Portion Gulasch zu essen.
Das ist sie, die Trauer, die uns ein Leben lang begleitet. Ein tiefer, unwiderruflicher Ausdruck von Liebe.
Wenn ihr euch diese Woche noch weiter mit dem Thema Trauer auseinandersetzen wollt, empfehle ich euch die Folge zum Ewigkeitssonntag, die ich letztes Jahr zusammen mit Gottfried Bormuth gemacht habe.