Eltern sein, Familie leben

Elternschule – eine Filmkritik

Am Sonntag habe ich mir den Film Elternschule in Kassel angesehen. Als Zuschauerin habe ich mich während der 120 Minuten Filmlänge sehr häufig gefragt, was uns dieser eigentlich zeigen will. Die Filmemacher selbst erklären auf ihrer Homepage, sie hätten Antworten gesucht. Antworten auf Fragen wie: Wie ticken Kinder? Was brauchen sie von uns und was nicht? Dass Adolph und Bücheler ihre Antworten ausgerechnet in einer Kinder- und Jugendklinik gesucht haben, erklären sie damit, dass sie nur an diesem Ort das Dilemma der Kindererziehung verdichtet beobachten konnten. Was sie dort hätten einfangen können, hätten sie niemals durch Besuche in Privathaushalten sehen können.

Die Schwäche des Settings

Dieser These stimme ich zu. Sie hätten vieles, was sie dort angetroffen haben, nicht vorgefunden, wenn sie einen Film über Familienleben in Deutschland gemacht hätten. Zumindest nicht in der Dichte. Das liegt aber vor allem daran, dass in der Gelsenkirchener Klinik, die die beiden ausgewählt hatten, Familien in sehr schweren Ausnahmesituationen behandelt werden. Dieses klinische Setting ist für mich das Hauptproblem des Films.

Die Eltern, die mit ihren Kindern nach Gelsenkirchen kommen, haben alle eines gemeinsam. Sie sind verzweifelt, am Ende ihrer Kräfte und zum Teil auch am Ende ihrer Optionen. So erzählt eine Mutter bereits zu beginn, dass dieser Aufenthalt die letzte Chance für sie ist, ihre Tochter in der Familie zu behalten. Scheitert die Behandlung, muss das Mädchen in ein Heim. Eine andere Mutter bringt ein Kind mit, das bis zu 14 Stunden am Tag schreit – und selbst wenn das Kind nicht schreit und gar nicht bei ihr ist, hört sie Phantomschreie. Ein kleiner Junge verweigert das Essen und ist bereits so stark unterernährt, dass ihm im Laufe des Films eine Magensonde gelegt werden muss. Und all diesen Familien verspricht die Gelsenkirchener Klinik eine Verbesserung ihrer Lage – innerhalb von wenigen Wochen.

Um in einem chronisch unterfinanzierten System ein solches Heilsversprechen einlösen zu können, bedient sich die Klinik sehr radikalen verhaltenstherapeutischen Methoden. Die Kinder durchlaufen, Ess-, Schlaf- und Trennungstrainings und die Eltern erhalten in dieser Zeit Unterricht, um zu lernen, wie ihre Kinder angeblich “ticken”. Die Kamera nimmt uns mit in diese Trainingssettings und auch in die Unterrichtsstunden. Ziel ist es, die Bilder, die zum Teil sehr verstörend sind, mit theoretischem Wissen zu hinterlegen und so für Verständnis zu werben.

Die Schwäche des Ansatzes

Auf den ersten Blick erscheint viel von dem, was die Psychologen und Sozialarbeiter den Familien mitgeben, plausibel. Doch schaut man genauer hin, werden Schwächen sichtbar. So entsprechen einige entwicklungspsychologische Modelle nicht mehr dem heutigen Stand der Wissenschaft. Andere sind durchaus richtig, jedoch passen die Rückschlüsse, die in der Gelsenkirchener Elternschule daraus gezogen werden, nicht zu den Informationen. So wird sehr gut erklärt, warum sich ein kleines Kind nicht gern von seinen Bindungspersonen trennen will und dass dies ein sehr natürliches Verhalten ist. Daraus abgeleitet wird dann jedoch eben ein radikales Trennungstraining.

Die gezeigten Trainingsmethoden, sei es beim Schlafen, Essen oder der Trennung von der Mutter, sind ebenfalls nicht mehr Standard. In ambulanten Settings wird so längst nicht mehr gearbeitet, und selbst im klinischen Bereich gibt es Tendenzen zum Umdenken. Jedoch muss man hier berücksichtigen, was ich oben schon gesagt habe – das klinische Setting als solches ist ein Problem. Ein System, was mit solch engen Zeitvorgaben arbeitet, kann nicht nachhaltig an der Verbesserung von Beziehungsgeflechten in Familien arbeiten, sondern muss an der schwächsten Stellschraube drehen und das sind in diesem Fall die Kinder.

Dass es durchaus Anlass gegeben hätte, den Erwachsenen mehr als nur verhaltenspädagogischen Unterricht zu geben, zeigen kleine, beinah nebensächlich dargestellte Sequenzen. Da ist die Mutter, die gegen Ende des Aufenthaltes davon berichtet, dass sie in den letzten Monaten zu Hause fast nur noch weinend im Bett gelegen habe. Da ist die andere Mutter, die bei der Aufnahme von einer traumatischen Geburtserfahrung berichtet und da sind die ängstlichen Eltern, deren Familienglück nie rosarot, sondern von Anfang an durch Krankheit schwer belastet war.

Kein Film über Erziehung

All das führt mich wieder zu meiner Ausgangsfrage, was der Film uns eigentlich zeigen will. Wirklich, wie Erziehung funktioniert? Dann ist der Versuch gründlich misslungen. Elternschule zeigt aber etwas anderes. Es zeigt jedem, der genau hinschaut, dass auffälliges Verhalten von Kindern immer eine Reaktion ist. Die Kinder im Film reagieren auf schwierige Beziehungsgeflechte. Sie zeigen ihren Eltern, dass etwas nicht stimmt und dass sich etwas ändern muss. Sie sind keine kleinen, manipulativen Wesen, wie in den Unterrichtseinheiten immer wieder suggeriert wird, sondern Spiegel, die sichtbar machen, das etwas in Schieflage ist.

Statt verhaltenspädagogischen Unterricht, hätte jede einzelne Mutter in diesem Film einen Haufen innige Umarmungen gebraucht und jede Menge Zuspruch. Einige davon bedurften eigentlich der Heilung. Sie hätten jemanden gebraucht, der ihnen hilft, die Bindung und Beziehung zu ihren Kindern zu stärken und mit ihnen herausarbeitet, was liebevolle Führung ist. Sie hätten jemanden gebraucht, der ihnen Ängste nimmt und ihre Not sieht – und die ihrer Kinder. Doch für all das ist in einem System, das dafür zuständig ist, dass etwas in drei Wochen wieder funktioniert, kein Raum. Ich hoffe, dass sich herum spricht, dass das ist, was man aus Elternschule eigentlich lernen kann. Am besten bevor der Film nächstes Jahr ins Fernsehen kommt.

(Foto: Inka Englisch)

2 Kommentare zu „Elternschule – eine Filmkritik“

  1. Danke für deinen Bericht! Ich dachte es mir fast schon im Vorfeld, als ich die Analysen zu dem Film las, dass ziemlcih wahrscheinlich die jeweiligen Eltern wohl eher psychologische sowie tatkräftige Unterstützung gebraucht hätten, um den Alltag mit ihrem Kind meistern zu können.

    Eltern stärken, anstatt die Kinder zu verbiegen.

    Wie du richtig erwähnt hast: Es wird am schwächsten Glied der Kette herum gedoktert. An denen, die sich nicht wehren können. An denen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu eben den Menschen stehen, die nicht mehr können, aufgrund ihrer eigenen Diskrepanzen.

    Aber darauf ist leider unser ganzes System nicht ausgelegt. Erwachsene müssen sich unter Kontrolle haben und Kindern wird diese Selbst-Kontrolle schon früh vorgeschrieben. Damit sie ins System passen…

  2. Pingback: Die Würde des Kindes ist unantastbar - auch ohne Elternschule und Grimme-Preis - Eltern sein - Familie leben

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Fotos: Inka Englisch (Link)

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