Wenn Sie bei Facebook sind, kennen Sie das bestimmt. Ungefähr einmal in der Woche taucht in Ihrer Timeline ein schwarz-weiß Bild auf. Darauf sieht man meistens Kinder in Gummistiefeln, mit Schirmmützen, die an Bullerbü erinnern und Stöcken in der Hand über Feldwege rennen. Darüber steht dann so etwas wie
Wir sind die letzte Generation, die draußen gespielt hat.
Oder besser noch – die Natur war unser Smartphone.
Dahinter steckt der Gedanke, dass Kindheit früher auf jeden Fall besser war. Natürlicher, naturnaher, gesünder, kindgerechter, freier.
Auf den ersten Blick hat der Gedanke, dass Kinder früher kindgerechter aufgewachsen sind, zugegeben einen gewissen Charme. Denn zurecht wird heute oft bemängelt dass das, was wir unseren Kindern zumuten, an deren Bedürfnissen vorbei geht. Viele Kinder verbringen tatsächlich zu viel Zeit in Institutionen oder mit Dingen, die sie eigentlich nicht bräuchten und so kann man schon dem Gedanken verfallen, dass das irgendwann mal besser war.
Schaut man genauer hin, wird man jedoch feststellen, dass schon unsere Großeltern diesen Satz gesagt haben – und schaut man sich deren Geburtsdaten an, wird man schnell dahinter kommen, dass das eigentlich schwer vorstellbar ist. Vielmehr ist es so, dass wir Großen dazu neigen, unsere Kindheit im Nachhinein zu verklären. Wir haben unbedingten Wunsch, eine schöne Kindheit gehabt zu haben – und in Teilen hatte sie sicherlich auch jeder. Nur dürfen wir unsere eigene Kindheit nicht als Schablone für das benutzen, was Kinder heute erleben. Sie darf nicht der Maßstab, nicht der Gradmesser für das sein, was wir für unsere eigenen Kinder wünschenswert und erstrebenswert halten. Sie war unsere Kindheit, in unserer Zeit gelebt und mit dem, was zu dieser Zeit möglich und machbar war.
Unsere Kinder wachsen in einer anderen Zeit auf. Ja, sie wachsen in einen technischen Fortschritt herein, der für uns damals noch gar nicht denkbar war. Selbst Kleinkinder können heute oft intuitiv Smartphones bedienen, wir kommunizieren anders und Spiele an Spielekonsolen sind nicht mehr nur bloßes über Blöcke hüpfen und feuerspuckenden Blumen ausweichen, sondern sie sind ein Eintauchen in eine echte Abenteuerwelt. Vieles, was man heute auf dem Markt findet, erinnert eher an Filme, in denen man die Hauptrolle übernehmen darf. Kein Wunder, dass unsere Kinder und Jugendlichen davon schier magisch angezogen zu sein scheinen.
Doch bedeuten diese neuen Möglichkeiten wirklich, dass das, was einmal schön für Kinder war, das freie, unbeaufsichtigte Spiel draußen in der Natur, keine Reize mehr hat? Spielen unsere Kinder wirklich nicht mehr draußen?
Zunächst einmal ist der Gedanke, dass Kinder heute nur noch drin sind, nicht richtig. Kinder spielen noch genauso gern draußen. Sie spielen gern frei und sie spielen total gern unbeaufsichtigt. Auch heute kann man Kinder noch mit Schnitzmessern, Stöcken, Bäumen und Matsch begeistern. Auch heute wollen und müssen sie noch fühlen und experimentieren. Und ja – auch heute spielen Kinder noch allein draußen und kommen erst rein, wenn die Straßenlaternen angehen.
Zumindest wenn sie öffentliche Räume vorfinden, in denen das möglich ist. Und genau da haben wir vielerorts ein Problem. Wildheit und Freiheit braucht einen gewissen Rahmen. Das muss nicht das Haus am Waldrand sein, das hatten auch früher nur wenige Kinder – und die kamen nicht selten lieber ins Dorf zum Spielen. Doch es muss gewisse Möglichkeiten bieten. Nur wenige Straßen sind verkehrsberuhigt, selbst um eine 30er Zone muss man zäh kämpfen, mal ganz davon abgesehen, dass die meisten Autofahrer die dazugehörigen Schilder gern ignorieren und viel schneller durch Siedlungsstraßen brettern. Grünstreifen sind meistens tatsächlich nicht viel mehr als Streifen, die vorzugsweise als Hundeklos verwendet werden oder die man nicht betreten darf, weil ein Landschaftsgärtner sich bei ihrer Begrünung ganz viel gedacht hat. Spielplätze bieten oft ein ebenso trauriges Bild. Zuerst lässt sich irgendjemand etwas total flippiges einfallen, was dem neusten, pädagogischen Schrei entspricht und baut ein Klettergerüst, was nicht einfach nur ein Klettergerüst ist, sondern alle fünf Sinne stimuliert und nebenbei wichtige Lernerfahrungen im Bereich der Nanostrukturtechnik ermöglichst und dann ist leider kein Geld mehr da, um es zu pflegen oder den Platz drumherum von Unkraut, Scherben und Zigarettenstummeln oder Schlimmeren zu befreien. Abgesehen davon, dass diese oft nicht mehr mitten in den Wohngebieten liegen, wo Kinder schnell und einfach alleine hinlaufen können, sondern am Ortsrand, im Wald oder am See, also an Orten, die Kinder erst dann allein besuchen können, wenn sie für Spielplatzbesuche eigentlich schon wieder zu alt sind.
Und dann ist da natürlich noch der Faktor andere Kinder. Denn welches Kind möchte schon allein auf gepflasterten Straßen zwischen Autos Himmel und Hölle spielen? Das macht erst Spaß, wenn andere dabei sind. Doch bei 1,4 Kindern pro Familie ist nicht mehr automatisch gesagt, dass in der Nachbarschaft auch Spielkameraden wohnen. Denn erstens gibt es davon immer weniger und zweitens sind viele eben tatsächlich lange in pädagogischen Einrichtungen. Angeblich lernen sie nämlich mehr und besser, wenn sie möglichst früh und möglichst lange irgendwo anders als Zuhause sind. Wenn sie Stöcke unter Anleitung eines Erwachsenen in Schüsseln schwimmen lassen, statt sie in Pfützen zu werfen. Wenn sie den Fallwinkel von Steinen berechnen, statt diese einfach in den Bach zu werfen. Dieses System haben sich nicht die Kinder ausgedacht – all das verantworten wir.
Wenn wir das nächste Mal ein nostalgisches Foto aus unserer Kindheit posten und behaupten, wir seien die letzte Generation gewesen, die die Straßen bespielt hat, dürfen wir gern einen Satz hinzufügen: Und dann haben wir die Straßen unbespielbar gemacht, für die, die das jetzt genauso gern machen würden!
(Foto: Inka Englisch)