Eltern sein, Familie leben

Wahrhaftigkeit im Familienleben

Wollt ihr euch nicht wieder vertragen, frage ich mein Kind, das sich gerade mit einer guten Freundin gestritten hat. Doch mein Kind sitzt mit hochroten Wangen auf dem Fußboden, hat die Arme um seine Knie geschlungen und schüttelt energisch den Kopf. Sie möchte nicht. Das andere Kind steht daneben und eine dicke Träne kullert über sein Gesicht. Ihre Mama ist auch da und sieht mich erwartungsvoll an. Es ist eine dieser Situationen. Zwei Werte, die mir im Umgang mit meinen Kindern wichtig sind, scheinen sich unversöhnlich gegenüber zu stehen. Es geht hier um Höflichkeit – und um Wahrhaftigkeit.

Ein Teil von mir möchte dem Kind jetzt sagen, dass es sich bitte wieder versöhnen soll, denn das wäre der anderen Familie gegenüber höflich.  Doch es wäre nicht wahrhaftig. Ich würde mein Kind zu einer Aussöhnung nötigen, zu der es noch nicht bereit ist. Es hat sich kurz davor noch ordentlich geärgert. Die Auseinandersetzung war rustikal – es ging ordentlich zur Sache und auch nicht nur mit Worten. Nun stehen zwei aufgewühlte Häufchen Elend in meinem Wohnzimmer und daneben zwei Mütter, die sich den Nachmittag irgendwie anders vorgestellt hatten.

Als Gastgeberin sollte ich mir jetzt eigentlich schnell etwas Gutes einfallen lassen. Meinem Kind irgendwas zuflüstern, was sie ihre Entscheidung überdenken lässt. Sie vielleicht mit irgendwas bestechen oder erpressen oder ihre Gefühle herunterspielen. Natürlich hätte ich es in der Hand dafür zu sorgen, dass sich die Situation für unsere Gäste besser anfühlt. Ich bin die Stärkere und ich hätte genug Macht, diese Situation zu verändern. Doch der Preis dafür ist mir zu hoch. Ich würde meine Tochter dazu zwingen, etwas anderes zu tun und zu sagen, als sie gerade fühlt. Ich würde ihr beibringen, dass eine geheuchelte Versöhnung besser ist, als die ehrliche Erklärung, dass man noch ein bisschen Zeit braucht. Ich würde ihr ihre Wahrhaftigkeit nehmen.

Als Wahrhaftigkeit bezeichnet man die Übereinstimmung von dem, was wir denken, fühlen, sagen und tun. Wenn wir wahrhaftig sind, sind wir mit uns im Einklang. Wir sind echt. Wir heucheln nicht, wir lügen nicht, wir unterdrücken oder verdrängen nichts. Wahrhaftigkeit ist eine sehr gesunde Lebenshaltung. Wir Erwachsenen tun uns mit Wahrhaftigkeit jedoch oft sehr schwer. Wir haben schon lange gelernt, uns zu entschuldigen, obwohl wir es nicht so meinen. Wir haben gelernt, das was wir wirklich denken oder fühlen nicht zu zeigen, wenn wir fürchten, dass es dem Gegenüber nicht gefällt. Wir haben gelernt, dass eine Lüge oft besser als die Wahrheit ist. Schlimmer noch, wir sind so weit weg von echter Wahrhaftigkeit, dass wir oft gar nicht mehr spüren, dass das, was wir tun und sagen gar nicht im Einklang mit unseren Gefühlen steht. Wir haben schon längst das gute Gespür für uns selbst verloren.

Wie so oft bieten uns unsere Kinder auch hier wieder die Chance, etwas ganz neu einzuüben. Kinder brauchen Eltern, die echt sind, die stimmig sind – die wahrhaftig sind. Sie müssen lernen, dass es in Ordnung ist, sich mit dem, was sie in diesem Moment spüren, zu zeigen. Sie müssen merken, dass ihre Entscheidungen respektiert werden. Auch dann, wenn es von gesellschaftlichen Normen abweicht.

Mein Kind hat übrigens nicht besonders lange gebraucht, um den nächsten Schritt zu gehen, denn sie ist nicht nachtragend – noch so eine herrliche Eigenschaft von Kindern. Die Mädchen haben sich vertragen und weitergespielt und wir Mamas konnten endlich in Ruhe einen Kaffee trinken.

 

Fotos: Inka Englisch (Link)

Über mich:

Unternehmerin, Erziehungswissenschaftlerin, Familienberaterin, Autorin, dreifache Mama und vor allem für Sie und ihre Familie da.

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