Dein Kind will dich nicht ärgern

Ich war voll beladen! Ein Rucksack auf dem Rücken, unterm Arm die Picknickdecke und in der anderen Hand trug ich die Stöcke, die mein Kind während der Wanderung gesammelt hatte. Es waren viele Stöcke – denn es war eine lange Wanderung gewesen. Den ganzen Vormittag waren wir mit der Kindergartengruppe draußen gewesen, im Wald, im Feld, auf dem Spielplatz und nun gingen wir so schnell es die kleinen Beine eben noch erlauben, nach Hause. Unser Haus war schon fast in Sichtweite, bald hätten wir es geschafft, bald würden wir uns ausruhen können.

Doch der kleine Mensch, der gerade noch tapfer neben mir gelaufen war, sah das anders. Für ihn schien der Weg endlos zu sein. Eben gerade hatte er noch fröhlich erzählt, nun schrie er und weinte. Er lag auf dem harten Bürgersteig, trommelte mit den Fäusten auf den Boden und war wütend. Wütend, weil andere Kinder in einem Bollerwagen gefahren wurden und er laufen musste. Warum jetzt, schoß es mir durch den Kopf, warum so kurz vor dem Ziel?

Eine Frau blieb stehen und beobachtete uns. Warum es denn so schreie, fragte sie das unglückliche Kind auf dem Fußboden. Dieses antwortete natürlich nicht, sondern schrie nur umso lauter. Wer von uns will schon in einer emotionalen Ausnahmesituation von einem Fremden angesprochen werden? Ich konnte das Kind verstehen, lächelte die Frau an und sagte, dass der Weg lang war und die Beine müde sind. Dann redete ich mit dem Kind. Ich spiegelte seine Gefühle. Ich sehe, dass du dich ärgerst, sagte ich. Du wolltest auch gefahren werden. Du willst nicht mehr laufen. Du bist müde. Das Kind reagierte nicht.

Das Balg will sie doch nur ärgern, sagte die Frau, die mittlerweile die Straße um uns herum kehrte. Ich reagierte nicht und sprach nochmal mit meinem Kind, das nun nicht mehr trommelte, sondern nur noch schluchzte. Du bist müde, sagte ich. Das Kind nickte. Ich stopfte irgendwie die Stöcke in den Rucksack und klemmte die Decke unter den Verschlüssen fest. Diese rissen fast – aber dann funktionierte es doch. Ich hob das weinende Kind auf, weil ich wusste, dass es nicht mehr aufstehen würde. Weil ich wusste, dass es nicht mehr mit mir kooperieren konnte. Weil ich wusste, dass das kein Moment für Erziehung war, keiner um Grenzen zu setzen, keiner um dem Kind zu zeigen, wer hier der Boss ist.

Das Kind hat seine Mutter gut im Griff, rief die fremde Frau uns hinterher. In mir kochte zum ersten Mal in dieser Situation echte Wut hoch. Wut auf diese blöde Aussage, Wut auf die Situation. Wut auf mich, weil ich nichts Eloquentes entgegnen konnte. Wut auf unsere Welt, weil wir so einen furchtbaren Blick auf Kinder haben.

Ein Kindergartenkind kann uns nicht manipulieren. Es will uns nicht ärgern. Es kann manchmal einfach nur nicht mit uns kooperieren. Mein Kind war in dieser Situation einfach wütend, weil es gesehen hat, das andere gefahren wurden. Es wolle auch im Wagen sitzen, erstens, weil es dann nicht mehr hätte laufen müssen und zweitens, weil das Fahren in einem Bollerwagen ziemlich viel Spaß macht. Es besitzt noch nicht die Fähigkeit, gedanklich neu zu planen, wenn es merkt, dass sein Wunsch nicht erfüllt werden kann. Für dieses Kind ist diese Situation, die uns selbst so klein erscheint, eine Katastrophe. Sie führt zu einem wahren Zusammenbruch. Es ist noch zu klein, um sich selbst zu beruhigen. Es ist – gerade wenn der Tag vorher schon anstrengend war – völlig überfordert mit seinen Gefühlen. Es braucht uns an seiner Seite. Das Kind hat uns in dieser Situation nicht im Griff – es hat nicht einmal mehr sich selbst im Griff, alles ist im völlig entglitten. Es braucht einen Erwachsenen, der es in seinen Griff nimmt – und zwar manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Jemanden Großes, Vertrautes, jemanden, der ihm spiegelt, was gerade los ist, jemanden, der ihn aus dieser Situation holt. Es braucht jetzt keine Lektion. Es muss nicht liegen gelassen werden und das Gefühl bekommen, allein und verlassen zu sein. Es muss in diesem Moment nicht erzogen werden – sein Gehirn könnte die angebliche Lehre, die Erwachsene dann gern erteilen wollen, gar nicht aufnehmen, denn es hat all seine Systeme runtergefahren und wartet auf den Neustart.

Die Vorstellung, dass uns ein Kind im Griff hat oder ärgern will, ist eine sehr erwachsene Sicht auf die Dinge. Schließlich sind es in der Regel die Großen, die sich gegenseitig manipulieren, nach ihrem Vorteil suchen oder Spielchen miteinander spielen. Was unsere Kinder in solchen Situationen tun ist nichts anderes, als an ihre eigenen, noch sehr zarten Grenzen zu geraten und dann brauchen sie uns, nicht um neue Grenzen zu setzen, sondern um sie zu schützen.

Unsere Kinder wollen uns nicht ärgern – sie wollen wachsen – und das ist manchmal ganz schön anstrengend.

4 Kommentare zu „Dein Kind will dich nicht ärgern“

  1. Ein Artikel mein, gefühlt, tägliches Leben auf den Punkt bringt. –
    Dieses Unverständnis der Umwelt, dieser Blick auf die Kinder ist vor allem hier auf dem Dorf noch tief verankert. Da wird schon bei Neugeborenen von Manipulation ausgegangen.
    Es tut mir im Herzen weh, zu wissen wie viel Kinder mit dieser Einstellung ihnen gegenüber aufwachsen müssen. Und TROTZDEM, merke ich immer wieder wie durch das Umfeld und die starke eigene Prägung zu manchen Situationen auch der Gedanke „das macht er doch jetzt mit Absicht“ in mir keimt.

    1. Hallo Anja. Danke für deinen Kommentar. Es ist wirklich so, wir sind so tief durchsetzt von diesem Gedanken, dass unsere Kinder uns manipulieren oder tyrannisieren wollen, dass es uns manchmal selbst dann schwer fällt, wenn wir eigentlich reflektiert an die Sache rangehen. Wir tragen einfach ein schweres Erbe mit uns herum. Ich werde darüber mal schreiben, vielleicht aber erst in der zweiten Jahreshälfte.

      1. Ich bin irgendwann Opa geworden, hatte aber vorher das Glück, Eltern zu haben die mich wirkich nur dann erzogen haben wenn es Sinn machte. Die oft genannten “Trotzreaktionen” während der ersten Lebenjahre wußten meine Eltern zu deuten und haben mich mit meinen Probemen nie allein gelassen. Gott sei dank, versuchten sie in derartigen Situationen auch nicht mich zu erziehen, sondern waren einfach für mich da. Hinter ihnen konnte ich mich verstecken, bei ihnen konnte ich Schutz suchen und fand ihn. Leider sind viele Menschen meiner Generation anders aufgewachsen. Bei dem größten Teil war die elterliche Erziehung eine Aneinanderkettung fürchterlicher Irrtümer. Das prägt und man trägt diese Irrtümer sein Leben lang mit sich herum. Da ist es nahezu unmöglich Verständnis für manche “verzweifelte Situation” eines Kindes aufzubringen. Ich kann es, nicht weil ich ein supertoller Mensch bin, sondern weil ich es gelernt habe. Und eben das macht mich ein wenig stolz und meinem Enkel kommt es zu Gute. Meinen Eltern bin ich ewig dankbar daß gerade sie meine Eltern waren.

        1. Hallo Klaus. Danke für deinen Kommentar. Das ist total spannend und gleichzeitig so schön, weil man daran sieht, wie wir eben nicht nur im negativen, sondern auch im positiven Sinne mitnehmen, was die Generationen vor uns uns zu geben haben. Deine Eltern waren riesige Ausnahmen und ihrer Zeit weit voraus, ich verstehe deine Dankbarkeit zutiefst. Schön, dass du es bis heute weitergeben kannst.

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Fotos: Inka Englisch (Link)

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