Warum meine Kinder mich nie beleidigen
Solange deine Kinder nicht sprechen, sagte eine Freundin kürzlich zu einer anderen jungen Mutter, können sie dich wenigstens nicht beleidigen. Ihre eigene Tochter hatte sie kurz zuvor blöde Kuh genannt und das nagte noch sehr an ihr. Meine Kinder beleidigen mich nie, sagte eine andere Mutter und wir waren sehr überrascht. Es stellte sich heraus, dass ihre Kinder anscheinend tatsächlich noch nie ein Schimpfwort im Bezug auf ihre Mutter benutzt hatten.
Ich dachte danach noch lange über dieses Gespräch nach und musste feststellen, dass meine Kinder mich auch noch nie beleidigt haben.
Allerdings ist es bei mir ein bisschen anders, es ist nicht wirklich so, dass meine Kinder mich noch nie blöd, doof oder gemein genannt hätten. Ehrlicherweise tun sie das von Zeit zu Zeit. Es ist nur so, dass ich mich dadurch nicht wirklich beleidigt fühle. Vielmehr weiß ich, was meine Kinder mir eigentlich sagen wollen, wenn sie doofe Mama durch den Raum schreien.
Doofe Mama heißt nicht, dass sie mich, ihre Mama wirklich doof finden. Vielmehr finden sie doof, was ich in diesem Moment getan, nicht getan oder gesagt habe. Sie finden mein Handeln doof oder aber, sie finden die Situation als solche doof.
Ein Schimpfwort, mit voller Inbrunst an den Kopf eines geliebten Menschen geschmissen, bedeutet bei Kindern vor allem eins – sieh her, ich bin gerade total verzweifelt. Ich möchte das, was du gerade von mir erwartest, wozu du mich zwingst oder was du mir verweigerst, auf gar keinen Fall so haben. Ich bin in Not und du siehst es gar nicht, ich fühle mich von dir nicht gehört und ich weiß leider gerade auch gar nicht, wie ich dir das anders sagen soll.
Doofe Mama bedeutet, dass unsere Kinder nun in einem Gemütszustand sind, in dem sie nicht mehr in der Lage sind, mit uns zu kooperieren oder ein Team zu sein. Sie sind von ihren eigenen Gefühlen in diesem Moment so übermannt. Sie handeln nicht mehr bewusst, sondern haben im Gehirn ihr Notfallprogramm gestartet.
Unsere Kinder beleidigen uns also nicht wirklich und doch fühlt es sich manchmal für uns so an. Doch auch da lohnt es sich, genauer hinzuschauen. So wie unsere Kinder uns nicht beleidigen, sondern sich über unsere Handlungen oder eine unschöne Situation ärgern, so sind es oft auch nicht die Worte unserer Kinder, die uns wirklich treffen.
Oft rühren Kinder an etwas, was schon länger da war. Ihre Worte kratzen nur den Schorf von einer Wunde, die nie richtig geheilt ist. Waren wir vielleicht selbst einst das Kind, das die Handlungen und Situationen, in die Erwachsene es gebracht hatten, einfach doof fanden? Wurden wir für dieses Gefühl abgewertet oder bestraft? Hatten wir vielleicht nie die Möglichkeit, so etwas zu äußern und mussten wir immer kooperieren? Wann wurden wir schon einmal doof genannt in unserem Leben? Haben wir gelernt, dass wir es immer allen recht machen müssen, um geliebt und anerkannt zu werden und mussten wir immer Angst haben, dass jemand die Beziehung zu uns abbricht, wenn wir uns einmal doof verhalten?
Die Gründe, warum uns die Worte unserer Kinder treffen, können sehr vielschichtig sein. In den seltensten Fällen haben sie jedoch wirklich etwas mit ihnen selbst zu tun. Kinder führen uns immer wieder an wunde Punkte heran, an Grenzerfahrungen, an Verletzungen, die wir gern für immer verdrängen würden. Es ist in Ordnung, dass uns das weh tut. Meine Freundin macht keinen Fehler, wenn sie sich von den Worten ihrer Tochter getroffen fühlt, sie ist dadurch einfach nur ganz nah an sich selbst. Es kann gut tun, dem Gefühl nachzuspüren und hinzuschauen, wo es uns hinführt. Es ist gut, zu trauern, wenn wir in Kontakt mit einer Situation kommen, die nicht gut war. Es hilft dann, wenn wir eine riesige Portion Mitgefühl haben – Mitgefühl mit dem kleinen Kind, das wir einst selbst waren. Wenn uns das gelingt, dann werden wir es bald auch schaffen, mit dem kleinen Kind mitzufühlen, das heute vor uns steht – mit verweinten Augen, zerzausten Haaren, roten Bäckchen und seinen Händen in den Hüften und laut doofe Mama schreit.
Wichtig ist nur, dass wir verstehen, dass die doofe-Mama Momente keine Momente für Erziehung sind. Es sind nicht die richtigen Zeiten, um unseren Kindern beizubringen, dass man so nicht mit Erwachsenen redet. Es sind nicht die Zeiten, in denen wir mit Konsequenz die sogenannten Grenzen aufzeigen müssen, damit sich unser Kind nicht in den viel beschrienen Tyrannen verwandelt. Es ist vielmehr eine Zeit für Beziehung. Es ist eine Zeit fürs Fühlen. Fürs uns selbst fühlen und fürs Kind fühlen. Unsere Aufgabe liegt in so einer Situation darin, zunächst einmal gut für uns zu sorgen. Gut zu uns zu sein und alles zu tun, was nötig ist, das wir uns besser fühlen – alles – so lange es nicht die Grenzen unseres Kindes verletzt. Es kann sein, dass wir in solchen Momenten einmal kurz aus der Situation gehen müssen, um nichts zu tun oder zu sagen, dass unser Kind verletzt. Mit ein bisschen Übung können wir es auch in der Situation schaffen, uns zu kontrollieren und das Gefühl, beleidigt worden zu sein, nicht zu nehmen. Zunächst einmal hilft dann atmen. Tief und bewusst. Den Atem durch den Körper fließen lassen, spüren, wo er hingeht, dabei spüren, was uns hält. Die Füße zum Beispiel, die fest auf einem Boden stehen, der uns trägt. Oft entstehen solche Situationen, in denen unsere Kinder uns doof finden, aus Stress oder Hektik heraus. Daher kann es gut sein, sie zu entschleunigen. Wir können uns kurz bewusst machen, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit tragbar wäre, jetzt ein paar Minuten zu verlieren, evtl. zu spät zu kommen oder etwas nicht zu schaffen. Tragbarer jedenfalls, als sich in diesem Konflikt hochzuschaukeln. Wenn wir uns die Zeit nehmen, dann können wir es vielleicht auch schaffen, die Not des kleinen Menschen zu sehen und nicht nur die bösen Worte zu hören. Dann können wir unsere Kinder durch diese, für sie frustrierende, Situation begleiten. Es geht nicht darum, sie aufzulösen, indem wir etwas geben oder tun, was wir gerade eben noch aus gutem Grund nicht wollten. Es geht dann wirklich darum anzuerkennen, dass unser Nein oder unsere Handlung für unser Kind sehr ärgerlich ist und dass es uns braucht, um sich aus diesem Ärger zu befreien.
Wenn ihr euch zu diesem Thema weiter belesen wollt, kann ich euch zwei gute Bücher empfehlen.
Katia Saalfrank: Kindheit ohne Strafen. Neue wertschätzende Wege für Eltern, die es anders machen wollen.
Und
Susanne Mierau: Ich! Will! Aber! Nicht! Die Trotzphase verstehen und meistern.