Heute ist der Tag der gewaltfreien Erziehung. Der deutsche Kinderschutzbund ruft seit 2004 dazu auf, sich an diesem Tag besonders ins Gedächtnis zu rufen, dass Kinder ein Recht auf ein Aufwachsen ohne Gewalt haben.
Doch was ist das eigentlich? Gewaltfreie Erziehung? Das Bürgerliche Gesetzbuch sagt dazu folgendes:
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. §1631 BGB, ABS 2.
Ehrlich gesagt wünschte ich, die Gesetzgebung wäre an dieser Stelle noch viel eindeutiger. Während körperliche Gewalt noch recht klar umreißt, worum es geht, sind seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sehr viel schwammigere Begriffe. Wer entscheidet denn, wann die Würde eines Menschen verletzt wird? Wer entscheidet, wann die Seele Schaden nimmt? Tut sie das erst, wenn wir einem Kind wiederholt drohen, es beschimpfen, es mit Nichtachtung strafen oder schon, wenn wir gute Noten einfordern, auf sein Schreien in der Nacht nur verzögert oder gar nicht reagieren, es zum Gang in den Sportverein zwingen oder ihm sagen, dass es heute “böse” war?
Achten wir die Würde eines Menschen noch, den wir zur Strafe auf sein Zimmer schicken, dem wir lieb gewonnene Dinge entziehen oder den wir in der Schule oder im Kindergarten vor die Tür setzen? Achten wir ihn, wenn wir schreien, wenn wir nicht zuhören, wenn wir sagen, dass es uns egal ist, warum er zu spät nach Hause kommt oder in der Schule Ärger hatte?
Ein guter Indikator dafür, ob wir uns noch im Rahmen der gewaltfreien Erziehung bewegen könnte es sein, uns in die Lage des Kindes zu versetzen. Wäre es für uns okay, vom Chef oder dem Partner ignoriert oder vor die Tür geschickt zu werden? Wie würden wir uns fühlen, wenn uns jemand unser Smartphone wegnehmen würde, uns Freizeitaktivitäten aufzwingen würde, auf die wir keine Lust hätten oder unser Weinen und Flehen nicht ernst nehmen würde?
Wenn wir uns nach diesen Kriterien hinterfragen, ob wir gewaltfrei erziehen oder nicht, kommen wir bei der Antwort meistens nicht gut weg. Keiner von uns. Ich nicht. Ihr nicht. Denn wenn wir ehrlich sind, können wir es manchmal einfach nicht besser, als zu schreien, als gemeine Dinge zu unseren Kindern zu sagen, als mit Entzug von Lieblingsdingen zu drohen oder sie auf andere Art zu verletzen. Weil ich weiß dass das so ist und weil ich weiß, dass selbst die Reflektiertesten unter uns oft nicht mehr als eine Annäherung an die Gewaltfreiheit schaffen, möchte ich euch ein paar Gedanken dazu dalassen.
Allen voran möchte ich euch sagen, dass ihr okay seid, so wir ihr seid. Klingt komisch, wo ich mir doch weiter oben noch gewünscht hätte, dass die Gesetzeslage bei Gewalt in der Erziehung noch viel eindeutiger ist, ist aber so. Ihr seid okay, weil ihr euch bewusst macht, dass das, was ihr tut, für euer Kind nicht schön und aus Sicht eurer persönlichen Werte auch nicht in Ordnung ist. Damit habt ihr bereits einen riesengroßen Schritt gemacht. Ihr habt euch bewegt – weg von einem “Kinder brauchen sowas” – hin zu einem ehrlichen Blick auf euch und eure Handlungen als Eltern.
Der amerikanische Sozialwissenschaftler Lloyd deMause hat einmal geschrieben, dass die Geschichte der Kindheit ein Albtraum sei, aus dem wir nur langsam erwachen. Er spielt damit darauf an, dass es Kindern menschheitsgeschichtlich betrachtet oft nicht gut ging. Je weiter wir zurückgehen, so deMause weiter, desto wahrscheinlicher war es, dass Kinder ungestraft gequält, geschlagen oder getötet werden konnten.
Und doch brauchen wir gar nicht zu viele Jahrhunderte zurück in die Menschheitsgeschichte zu gehen, um unsere eigenen, schweren Prägungen im Umgang mit Kindern zu erkennen. Es reicht in Blick in die neuere deutsche Geschichte – denn diese ist voller schwarzer Pädagogik. Die wohl bekannteste Vertreterin eines unnachgiebigen, gewaltsamen Umgangs mit Kindern war Johanna Haarer. Die Ärztin wirkte besonders in den späten 1930er Jahren und verfasste den Erziehungsratgeber Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Dieser ist nicht nur geprägt von Haarers Verehrung für den Nationalsozialismus, sondern auch voll von brutalen Erziehungsvorstellungen. Umso erschreckender ist die Tatsache, dass der Erziehungsratgeber zwar später von all der Nazi-Propaganda befreit wurde, aber ansonsten so wie er war weiterhin verkauft wurde und bis in die 1980er Jahre hinein erhältlich war.
Ich erzähle euch dies, damit ihr ein Bild von dem bekommt, was ihr selbst mit ins Leben genommen habt. Es ist eher unwahrscheinlich, dass eure Eltern sich noch an die haarerschen Erziehungsgrundsätze hielten und mit etwas Glück seid ihr nicht schwer körperlich misshandelt worden. Doch eure Eltern könnten noch ganz anders aufgewachsen sein und eure Großeltern erst recht und das, was deren Eltern erlebt haben, kommt einem Albtraum aus heutiger Sicht tatsächlich gleich. An dieser Aufzählung lässt sich gut erkennen, dass jede Generation einen kleinen Teil dazu beiträgt, diesen Albtraum zu überwinden. Schwer misshandelte Kinder entschieden sich, ihren eigenen Kindern gelegentlich zu zuhören und ihnen nur bei groben Vergehen den Hintern zu versohlen. Durch diese körperliche Züchtigung gedemütigte Kinder beschlossen wiederum, das Schlagen nicht gut ist und verzichteten weitgehend darauf und doch verteilten sie von Zeit zu Zeit Ohrfeigen, weil sie es nicht besser konnten. Die geohrfeigten Kinder wollen nicht schlagen – weil auch Ohrfeigen wehtun – dem Körper und der Seele, doch der Reflex ist noch allzu deutlich. Sie unterdrücken ihn, das ist schwer, es erzeugt Stress und es erzeugt Schmerz und den schreien sie heraus – und manchmal werden sie gemein dabei. Damit das seltener passiert, geben sie ihren Kindern Regeln vor und arbeiten mit sonstigen Sanktionen – die die Würde ihrer Kinder nicht immer achten und die auf psychischer Ebene gewaltsam sind. Irgendwo am Ende der Kette stehen derzeit wir – manche vielleicht kurz hinter den Ohrfeigen, andere auf dem Weg, sich von den Sanktionen und den Gemeinheiten zu verabschieden und wieder andere vielleicht ganz woanders.
Wir haben schon viel geschafft – und wir wollen noch ganz viel mehr – und das ist gut so, denn der Weg zu einer gewaltfreien Erziehung ist noch lang. Noch ist sie nicht mehr, als eine Vision. Und weil das so ist, dürfen wir uns eingestehen, dass wir auf diesem steinigen Weg manchmal stolpern. Wir dürfen uns eingestehen, dass wir Hilfe brauchen. Wir dürfen uns eingestehen, dass dieser Brocken, den wir uns da vorgenommen haben, ein schwerer ist. Wir müssen uns nicht dafür schämen und wir müssen unseren Gegenüber nicht verurteilen. Im Gegenteil, wer stolpert, dem dürfen wir die Hand reichen. Dem dürfen wir anbieten, mit ihm zusammen zu überlegen, wie es das nächste Mal besser gehen kann.
Wir müssen einsehen, dass die Vision einer gewaltfreien Erziehung eine ist, die uns alle angeht – und das sie nur gelingen kann, wenn wir alle daran mitarbeiten. Wenn wir mutig sind und ehrlich und wenn wir gnädig sind – mit uns und mit anderen.
Liebe Daniela, danke, dass du deine Gedanken zu diesem Thema mit uns teilst. Mir liegt es auch schon länger auf dem Herzen darüber zu schreiben, ob oder wie gewaltfreie Erziehung überhaupt möglich ist. Mal sehen, wann ich dazu kommen. Liebe Grüße, Jojo
Danke für deinen Kommentar, Jojo. Ich würde mich sehr über einen Artikel von dir zu diesem Thema freuen.
Das ist ein toller Artikel!! Ich finde mich darin (leider viel zu oft) wieder und Danke für sehr für einen weiteren Stups in die richtige Richtung!!!