Ab wann muss ein Kind alleine einschlafen?
Diese Frage wird mir häufig gestellt. Dafür, dass die Eltern diese Frage stellen, gibt es zwei Hauptgründe, die mir in meiner Arbeit immer wieder begegnen. Zum einen möchten Eltern das wissen, weil sie von ihrem Umfeld gesagt bekommen, dass es nun aber langsam an der Zeit sei, dass das Kind im eigenen Zimmer, im eigenen Bett und ohne erwachsene Begleitung einschläft. Die verunsicherten Eltern haben sich bis dahin oft gar nicht daran gestört, dass es bei ihnen anders läuft, doch der Druck von außen ist enorm und zu keiner anderen Zeit ist das Schlafzimmer zweier Menschen interessanter als nach der Geburt eines Kindes. Es scheint, als fühle eine gesamte Gesellschaft sich auf einmal dazu berufen, in den intimsten Raum des Hauses zu sehen und darüber zu urteilen, wie dort die Nächte verbracht werden.
Es gibt aber auch einen anderen Grund, warum Eltern irgendwann wissen wollen, wann es für den Nachwuchs an der Zeit wäre, allein im eigenen Bett einzuschlafen. Dann nämlich, wenn zuvor ziemlich viel Leidensdruck entstanden sind. Wenn die Nächte im gemeinsamen Bett immer unruhiger werden, wenn Mamas und Papas endlich mal wieder ruhige Abende, statt stundenlange Einschlafbegleitungen wollen, dann wenn alle auf dem Zahnfleisch kriechen. Oft kommt bei diesen Eltern zum eigenen Leistungsdruck noch oben genannter Punkt hinzu, wenn sie anderen von ihren wenig erholsamen Abenden oder ihren durchwachten Nächten erzählen, reagieren diese oft mit einem Selbst-Schuld Reflex und werfen den gestressten Eltern vor, ihre Kinder bisher einfach zu sehr verwöhnt zu haben. Ein Ammenmärchen, das sich hartnäckig hält und dessen Herkunft ich bei Gelegenheit einmal genauer unter die Lupe nehmen möchte. Ein Ammenmärchen – und ein untrügliches Zeichen von mangelndem Einfühlungsvermögen, wenn ihr mich fragt. Eltern, die aus irgendeinem Grund in eine für sie schwierige Situation geraten sind und sei es, weil sie etwas getan haben, was wir grundfalsch finden, brauchen unser Mitgefühl und nicht unsere Selbstgerechtigkeit. Setzen wir letztere ein, sagt das sehr viel über uns aus und sehr wenig über die Eltern, die in der jeweiligen Situation sind.
Aber zurück zum eigentlichen Thema. Wann muss ein Kind allein in seinem Bett ein- und durchschlafen? Die Antwort ist einfach, geht schnell und wird einigen nicht gefallen. Sie lautet nämlich – gar nicht!
Ein Kind muss das gar nicht können, weil es anders, als von vielen behauptet, weder normal, noch natürlich ist, dass Kinder alleine in einem eigenen Zimmer und einem eigenen Bett die Nacht verbringen. Wir müssen uns bei dieser Frage klarmachen, dass es zu fast keiner Zeit in fast keiner Kultur dieser Erde eigene Kinderbetten oder gar eigene Kinderzimmer gab. Das Kinderzimmer ist als Statussymbol eines privilegierten Bürgertums im späten 18- und frühen 19. Jahrhundert entstanden. Anfangs war dabei auch nicht so sehr die Schlaffunktion entscheidend oder sogar das Spielen, vielmehr sollten die Söhne des Hauses eigene Zimmer zum ungestörten Lernen haben. Bis in die 1970er Jahre gab es in Deutschland noch keine richtige Kinderzimmerkultur und es war üblich, dass sich Geschwister Zimmer teilten oder dass die jüngeren Kinder bei den Eltern oder Großeltern schliefen. In den meiste Ländern und Kulturen der Welt (besonders außerhalb von Europa) ist der Gedanke, dass Kinder nachts alleine schlafen auch heute noch weitgehend unbekannt und wird zum Teil auch als absurd empfunden.
Menschheitsgeschichtlich wäre es die längste Zeit unseres Bestehens auch fahrlässig gewesen, seine Kinder allein in die Dunkelheit zu legen, denn unsere Vorfahren, die noch nicht in festen Häusern und kultivierten Städten und Dörfern lebten, mussten ihre Kinder eng bei sich haben, um sie vor Gefahren zu beschützen. Die ersten etwa drei Jahre ihres Lebens verbrachten die Kinder daher meistens direkt neben ihren Eltern/Müttern/Hauptbindungspersonen. Später schliefen sie zusammen mit Großeltern oder Geschwistern und der Platz bei Mama wurde von einem neuen Geschwisterkind belegt.
Für all diejenigen, die zur ersten Gruppe derer gehören, die sich die Frage stellen, ab wann ein Kind allein schlafen muss, dürfen sich also entspannt zurücklehnen. Denn sie machen nichts falsch, wenn sie ihre Kinder auch im Kindergarten oder Grundschulalter noch zum Einschlafen begleiten oder im Familienbett schlafen lassen. Sie machen schlicht das, was die große Mehrheit aller Eltern zu allen Zeiten und auch heute noch in fast allen Kulturen dieser Erde tut.
Für die Eltern allerdings, die fragen, weil der eigene Leidensdruck zu groß ist, ist die Antwort, die ich oben gegeben habe, nicht ausreichend. Denn sie haben das Bedürfnis nach mehr Zeit für sich am Abend, nach ruhigeren Nächten und vielleicht nach Zweisamkeit im Elternbett – und diese Bedürfnisse sind genauso wichtig und dürfen genauso ernst genommen werden, wie das Bedürfnis des Kindes nach Nähe.
Doch was nun? Ist das nicht ein Dilemma?
Es ist zumindest eine Frage, auf die es keine pauschale, sondern nur individuelle Antworten geben kann. Wenn die Kinder sehr klein sind, also im Baby- oder jungen Kleinkindalter, empfiehlt es sich, zusammen mit dem Partner und evtl. anderen Familienmitgliedern zu schauen, wie man die Abende für alle gut gestalten kann. Denn uns muss klar sein, dass wir in diesem Alter noch nicht mit den Kinder verhandeln können, dass ihnen das Gefühl für Zeit und Raum fehlt und dass sie, anders als in manchen zweifelhaften Schlafratgebern behauptet, nicht merken, dass wir immer wieder kommen.
Wenn die Kinder aber bereits älter sind und noch immer gern viel Nähe hätten, ist das ein Thema, das wir aufgreifen können. Zunächst einmal können wir schauen, warum das Kind gerade ein besonderes Bedürfnis nach Nähe hat. Hat es Angst vor Monstern oder Einbrechern? Befindet es sich gerade in einer schwierigen Phase? Was braucht das Kind gerade wirklich? Denn oft ist nicht die permanente Anwesenheit eines Erwachsenen während der Schlafphase das primäre Bedürfnis, sondern es steckt etwas anderes dahinter. Hier lohnt es sich, nachzufragen, genau hinzusehen, zu zuhören – und das Kind ernst nehmen.
Aber auch die eigenen Bedürfnisse müssen in solchen Situationen unbedingt ernstgenommen werden. Warum brauche ich den Abend für mich? Muss ich etwas tun, warten liegengebliebene Arbeiten auf mich? Dann könnte ich zusammen mit dem Partner schauen, wie sich das anders organisieren lässt. Brauche ich einfach Ruhe? Kann ich die vielleicht auch finden, während ich neben meinem Kind liege? Kann ich diese Phase irgendwie für mich nutzen, zum Entspannen, Abschalten, zum stillen Gebet? Möchte ich die Zeit lieber anders verbringen? Mit einem guten Buch, einer Folge meiner Lieblingsserie oder mit Sport? Das ist völlig legitim, total verständlich und sollte unbedingt umgesetzt werden. Dann wird es Zeit für Abmachungen mit dem Kind, denn oft geht es bei der Einschlafsituation ja vor allem um eins: Verbindung. Wir erwarten von unseren Kindern, dass sie den Tag loslassen, dass sie uns loslassen und dass sie allein bleiben, mit all ihren Gefühlen, Emotionen und unverarbeiteten Bildern im Kopf. Es kann ihnen helfen, wenn wir in Verbindung bleiben und zum Beispiel ehrlich sagen, dass wir nun eine Folge unserer Lieblingsserie gucken gehen – und dann noch einmal wiederkommen. Oder dass wir jetzt ein paar Sportübungen machen und zwischendurch reinschauen oder dass wir uns jetzt einen Tee kochen, ein paar Seiten lesen und dann wieder da sind. Unser Kind weiß dann, dass es zwar eine Weile allein sein wird, aber nicht verlassen ist. Es weiß, dass wir in der Nähe sind und dass wir wiederkommen.
Was wir auf keinen Fall tun sollten ist, die Zähne zusammenbeißen und die Abende mit unseren Kindern zusammen im Bett verbringen, obwohl wir das nicht wollen. Damit übertragen wir die Verantwortung für die Abendgestaltung auf die Kinder und übernehmen sie selbst nicht mehr. Wir dürfen unsere Bedürfnisse sehr ernst nehmen und die des Kindes auch und wir dürfen darauf vertrauen, dass irgendwo zwischen unseren unterschiedlichen Bedürfnissen und dem, was anderen Menschen sagen, ein Weg liegt, der für uns als Familie passt. Manchmal ist er verrückt, manchmal vielleicht unkonventionell und manchmal schwer zu finden, aber es lohnt sich, ihn zu suchen. Für uns alle!
Unglaublich wie dieser Text in meinen Tag spricht. Gerade gestern abend habe ich alle drei Kinder alleine ins Bett gebracht (sonst übernimmt die beiden Großen mein Mann). Kind 2 hatte aber “angst” und ich habe mich dazugelegt, es aber nicht ausgehalten, weil ich auch Ruhe für mich brauchte. Ich sagte ihr, dass ich in 5 Minuten wiederkomme und hatte so ein schlechtes Gewissen, das heute morgen immer noch da war, obwohl sie dann in den 5 Minuten, in denen ich weg war, eingeschlafen war. (Und ja, ich muss da irgendwelche Alternativlösungen finden, denn ich finde sie emotional ein bisschen schwierig gerade).