Es war einer dieser Tage – in einem bis dahin wunderschönen Sommerurlaub. Eine schwüle Hitze hatte uns seit zwei Tagen im Griff und auch die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht. Stattdessen war sie unruhig gewesen – unruhig und schwer.
Am Vorabend hatte uns eine schlimme Nachricht von zu Hause erreicht und in den Stunden vor Sonnenaufgang war mir ihre Tragweite bewusst geworden. Ich hatte verstanden, dass es in unserem Bekanntenkreis jemanden gab, den wir nie wieder sehen, mit dem wir nie wieder sprechen, von dem wir nie wieder hören würden. Das volle Ausmaß dessen, was seine Frau und seine Tochter durchmachen mussten, war langsam in mein Bewusstsein eingesickert und mein Herz und meine Gedanken waren schwer wie die schwüle Luft.
Müde und mit einem dicken Kloß im Hals kroch ich aus meinem Bett, in der Hoffnung irgendwo in Ruhe in diesem Tag ankommen zu dürfen. Doch kaum stand ich, verwandelte sich der Kloß in meinem Hals in einen lauten Wutschrei! Unzählige Ameisen hatten über Nacht ihren Weg in unseren Wohnwagen gefunden und bekrabbelten gerade unsere Küchenzeile.
Nachdem ich mit allem, was ich fand, auf die ungebetenen Gäste eingeschlagen hatte und doch noch immer welche herumkrabbelten, entwickelte sich in mir eine trotzige Entschlossenheit: Ich würde diesen Urlaubstag genauso doll genießen, wie jeden einzelnen davor – koste es, was es wolle.
Und so schmiss ich meine müde Familie aus dem Bett und schleppte sie zum Frühstück in den Nachbarort, wo ich, wie ich ihnen erklärte, ein Lieblingscafé hätte! Allerdings stellte sich heraus, dass es das Café, in dem ich vor zehn Jahren einmal saß, einen tollen Milchkaffee trank und die ersten 100 Seiten des letzten Harry Potter Bandes las, schon länger nicht mehr gab. Stattdessen war da nun eine abgeranzte Eisdiele, die als Treffpunkt für die örtliche Alkoholiker-Szene zu dienen schien und in der zu jedem Frühstück einen Pastis serviert wurde. Während die Kinder sich freudestrahlend riesige Eisbecher mit Sahne als Morgenmahlzeit bestellten, quälte ich mir den widerlichsten Milchkaffee meines Lebens rein und knabberte missmutig an einem Croissant vom Vortag.
Auch danach wurde es nicht besser. Mein Mann und ich stritten darüber, ob dieser Ort nun trotzdem annehmbar oder eine Katastrophe war und die Kinder stritten über Eisfähnchen. Beim anschließenden Einkauf kotzte uns ein kleines Mädchen an der Fischtheke vor die Füße und zurück am Strand saß ich mies gelaunt in der Strandmuschel, starrte aufs Meer und ärgerte mich, dass ich ausgerechnet bei 40 Grad im Schatten am Mittelmeer meine Tage bekommen hatte.
Beim Abendessen stellten wir fest, dass wir ein verdorbenes Glas Aioli gekauft hatten und die Mehrheit der Kinder hatte plötzlich keine Lust mehr auf Meeresfrüchte. Dazu war es noch immer heiß und stickig.
Während die Sonne langsam unterging, suchten wir Abkühlung am Wasser und beobachteten ein Gewitter, dass sich über dem Meer zusammenbraute. Während ich langsam wieder Luft bekam, spielte mein Sandwichmädchen hinter mir im Sand – und begann auf einmal laut zu weinen. Sie hatte ihre Kette vergraben und fand sie nun nicht mehr. Wir buddelten also gemeinsam an allen Stellen, an denen sie gespielt hatte, doch bei einsetzender Dunkelheit war es schier unmöglich, noch irgendetwas zu finden und irgendwann verließen wir den Strand dann ohne Kette – und mit untröstlichem Kind.
Während ich mir später im Waschraum die Zähne putze und meine Tochter noch immer laut schluchzen hörte, schrie ich Gott meine Wut entgegen. Wie konnte das sein, dass so viel gleichzeitig passierte und das im Urlaub? Wo bist du überhaupt, fragte ich ihn. Machst du auch Urlaub? Hier scheinst du dich jedenfalls gerade nicht rumzutreiben.
Wenig später fand ich die Antwort in meinem Herzen.
Ich bin da, wo ich immer bin. Nur du kannst mich nicht finden. Vielleicht würdest du mich leichter spüren, wenn du endlich aufhören würdest, auf alle wütend zu sein, auf deinen Mann, deine Kinder, das Meer, deinen Körper und auf das Wetter. Hör auf damit, alle anzumotzen, wirf dich stattdessen in die Arme derer, die du liebst, denn wo Liebe ist, da bin ich spürbar.
Oh Mann…ja. Statt einfach einmal die Bremse einzuziehen und uns zu zugestehen, dass dieser Tag, obwohl er im Urlaub stattfand, einer war, den wir alle jammernd, aber aneinander gekuschelt im Schatten hätten vorbeigehen lassen sollen, habe ich auf meinem Plan bestanden. Ich habe mich nicht gefragt, was uns allen jetzt gut tun würde, sondern mich von meinem eigenen Starrsinn leiten lassen.
An diesem Abend streichelte ich meine müden Kinder in den Schlaf und vorher betete ich ausführlich mit ihnen. Das Sandwichkind bat Gott um ihre Kette und ich versprach, dass wir sie am nächsten Morgen nochmal mit ihr suchen würden.
Nachdem alle eingeschlafen waren, brach über uns das dringend nötige Gewitter los. Ich kuschelte mich in die Arme meines Mannes und während wir die Blitze durchs Fenster beobachteten, verflog all meine Wut und machte Platz für die Traurigkeit darunter. All die Tränen, die schon den ganzen Tag an die Oberfläche wollten, konnten endlich fließen. Endlich durfte ich sein, was ich an diesem Tag nun einmal war – erschöpft und traurig.
Und endlich fühlte sich der kleine Wohnwagen, mit all den geliebten Menschen nah bei mir, wieder an wie ein Ort voller Geborgenheit und Liebe. Endlich fühlte auch ich mich wieder behütet und geliebt.
Am nächsten Morgen war die Luft angenehm kühl und während mein Mann uns die verbliebenen Ameisen vom Hals schaffte, liefen die Kinder und ich zum menschenleeren Strand. Kaum waren wir angekommen, sah ich einen rosafarbenen Kettenanhänger durch den Sand schimmern.
Manchmal reicht ja ein Wort. Danke.