Kinder, die alles dürfen, werden zu Erwachsenen, die nichts können
Guck mal, sagte meine Freundin. Meine Kita hat einen Elternabend mit diesem Titel angesetzt. Was soll das denn heißen? Und vor allem, stimmt das aus deiner Sicht?
Ich hätte wahrscheinlich genervt die Augen verdreht und meiner Freundin geraten, den Abend lieber in der Badewanne zu verbringen, statt sich auf viel zu kleinen Stühlen den Hintern platt zu sitzen und einem Vortrag mit einem derart reißerischen Titel zu lauschen. Doch dann sprang mich genau dieser Satz in den darauffolgenden zwei Wochen drei weitere Male an und langsam aber sicher begann ich, mich darüber zu ärgern.
Eine derartige Zuspitzung macht mich aus mehreren Gründen wütend – zum einen, weil sie mit Ängsten von Eltern spielt. Wir alle, jede Mama und jeder Papa da draußen, egal welchen Erziehungsstil wir verfolgen oder bewusst nicht verfolgen, egal wo wir groß geworden sind, egal wie unser Leben gerade aussieht, wir wollen vor allem eins: glückliche Kinder, die gut ins Leben kommen. Wir wollen ihnen ein stabiles Fundament geben, damit sie die Aufgaben, mit denen sie in Zukunft konfrontiert werden, meistern können. Kurz, wir wollen, dass sie eine ganze Menge können. Die Vorstellung, dass sie einmal nichts können werden, die macht uns Angst, denn dann hätten wir unser Ziel verfehlt, wir hätten als Eltern versagt und unseren Kindern eine faire Chance im Leben verwehrt.
Zum anderen ärgere ich mich über derlei Behauptungen, weil sie schlicht und einfach falsch sind. Es ist nicht wahr – es kann gar nicht wahr sein. Schauen wir uns einmal den Satz an, so wie er dort oben steht. Kinder, die alles dürfen, werden zu Erwachsenen, die nichts können. Alles – was ist denn alles. Gibt es wirklich Kinder, die alles dürfen? Unsere Welt ist voller Grenzen und Einschränkungen – und ja, sie ist selbst für die Kinder voller Verbote, die von Haus aus sehr viel dürfen. Denn ich glaube nicht, dass es auch nur ein Kind gibt, das auf einer achtspurigen Autobahn Fußball spielen darf, dass zu Hause ausprobieren darf, was passiert, wenn man ein Streichholz an den offenen Gashahn hält oder dem im Wald einmal erlaubt wird zu testen, wie gefährlich Fliegenpilze wirklich sind. Alles ist also schon einmal eine Lüge – und ich bin sicher, dass die meisten Kinder, selbst die, die unerzogen aufwachsen, weit mehr Grenzen haben, als meine oben genannten Extrembeispiele.
Nachdem wir geschaut haben, was alles bedeutet, schauen wir uns auch das Nichts an. Nichts – gibt es tatsächlich Menschen, die nichts können? Kennt ihr irgendjemanden, der nichts kann? Es mag Leute geben, die derzeit nicht viel von dem können, was gesellschaftlich erwünscht ist, doch auch die können etwas – meistens sogar eine Menge Dinge. Was unsere Kinder in Zukunft können müssen, das wissen wir zudem gar nicht. Unsere Welt verändert sich derzeit so rasant, dass Dinge, die wir gestern noch für unmöglich gehalten hatten, heute real sind (im Guten, wie im Schlechten). Während es ein paar Generationen vorher noch relativ klare Bilder von dem gab, was die zukünftigen Erwachsenen können mussten, ist die Zukunft unserer Kinder im Nebel. Sie stehen einerseits vor riesigen globalen Herausforderungen. Ob auch sie noch einmal das Glück haben werden, weite Teile ihres Lebens in Friedenszeiten und in einer offenen Gesellschaft zu verbringen, wissen wir nicht. Andererseits werden sie einen technischen Fortschritt erleben, den wir uns heute nicht mal im Ansatz vorstellen können. Sie werden über Möglichkeiten verfügen und mit ihnen klar kommen müssen, die wir allenfalls mal in Star Treck gesehen haben.
Damit sind wir beim nächsten Punkt, der bei mir zu Schaum vor dem Mund führt: die mangelnde Auseinandersetzung mit der Frage, was für Menschen wir in diese – für uns völlig unsichtbare – Zukunft schicken wollen. Der oben genannte Satz klingt sehr nach Gehorsam. Wenn wir keine Kinder wollen, die alles dürfen, dann wollen wir Eltern, die klare Grenzen setzen. Künstliche Grenzen – und wir wollen Kinder, die lernen, diese Grenzen anzunehmen. Kurz – wir wollen gehorsame Kinder, die Obrigkeiten anerkennen und die tun, was ihnen gesagt wird. Natürlich ist es in manchen Situationen gut, wenn Menschen in der Lage sind, ihnen übergeordnete Instanzen anzuerkennen und deren Anweisungen zu befolgen. Immer dann, wenn diese Instanzen und Anweisungen zum Wohle aller handeln. Was aber, wenn dem nicht so ist? Was wenn das Staatsoberhaupt ein durchgeknallter Despot mit Allmachtsansprüchen ist? Was wenn die Entscheidung des Chefs so kurzsichtig ist, dass sie den Fortbestand des Unternehmens gefährdet? Sollen unsere Kinder dann auch gehorsam schweigen? Was wenn jemand mit Macht diese benutzt, um Schwächere zu demütigen, zu quälen oder auszuschließen? Wäre es nicht besser, sie hätten früh gelernt, Grenzen und Anweisungen zumindest in Frage zu stellen?
Versteht mich nicht falsch – ich bin nicht grundsätzlich dagegen, im Leben mit Kindern auch Grenzen zu setzen und ich bin auch nicht der Meinung, dass das Hinterfragen von elterlichen Entscheidungen jedes Mal dazu führen muss, dass diese sie rückgängig machen. Es gibt viele Bereiche, in denen wir Eltern Verantwortung tragen müssen und in denen wir auch unseren Kindern gegenüber für etwas einstehen müssen, das uns wichtig ist – und in denen wir als starke Eltern zu unserer Meinung und einem Verbot oder einer Grenze stehen dürfen. Ich bin es nur leid, dass uns sogenannte Erziehungsexperten vorschreiben wollen, was genau diese Grenzen zu sein haben. Die persönlichen Grenzen, die wir in unserem Familienalltag setzen, sind nämlich genau das – persönlich. Sie sagen etwas über unsere Werte aus, über das, was uns wichtig ist, über das, was für unsere Familie und zu unserem Alltag passt. Je nach Familie und Lebensstil können diese Grenzen äußerlich betrachtet eher eng sein oder auch sehr weit. Doch entscheidend ist nicht, wie sie von außen aussehen, sondern wie es denjenigen, die damit leben, geht. Unsere persönlichen Grenzen zeichnet noch etwas aus – sie sind im Fluss. Sie ändern sich mit der Zeit, mit dem Alter der Kinder, mit dem Lauf der Welt oder mit den Gedanken, die wir uns zu diesem oder jenem Thema machen. Manche werden auch tatsächlich von unseren Kindern eingerissen. Wir lassen sie fallen, weil unsere Kinder uns überzeugt haben, dass sie sie nicht brauchen und wir auch nicht. Nach der alles-und-nichts Logik zeigt sich dadurch unsere elterliche Schwäche – in Wirklichkeit zeigt es aber, wie stark wir als Familie sind. Familien, in denen Grenzen fallen dürfen, haben eine andere Basis gefunden, die meist aus Vertrauen und Dialog besteht und wo Vertrauen und Dialog sind, braucht es weniger Regeln und Verbote.
Macht das Einreißen familiärer Grenzen unsere Kinder also zu Nichtskönnern? Im Gegenteil. Die Kinder machen dadurch wichtige Erfahrungen. Zum einen erfahren sie Selbstwirksamkeit. Sie lernen in ihrem kleinen Mikrokosmos, dass sie wirksam sind, dass sie etwas verändern können, dass sie in der Lage sind, Grenzen einzureißen oder sie zu erweitern. Wenn diese Grenzen aufgrund eines gelungenen Dialogs zwischen Eltern und Kindern gefallen sind, dann lernen unsere Kinder noch etwas – nämlich dass sich reden lohnt. Sie lernen ein friedliches Mittel, um ihre Ziele zu erreichen. Wenn wir unseren Kindern in bestimmten Bereichen unser Vertrauen schenken, statt sie zu begrenzen und zu kontrollieren, dann gewinnen sie an Selbstvertrauen.
Werden Kinder, die viel dürfen also zu Erwachsenen, die wenig können, also wenige Fähigkeiten mitbringen, die es für ein gelungenes Leben bedarf? Ich glaube ehrlich gesagt, dass das Gegenteil der Fall ist, zumindest wenn diese wenigen Grenzen sich im Rahmen von gesunden, engen familiären Beziehungen und nicht im Rahmen echter Vernachlässigung abspielen.
Wie absurd der oben genannte Satz ist, wird auch deutlich, wenn man ihn umdreht, denn nach derlei Logik würde das ja auch bedeuten, dass
Kinder, die nichts dürfen zu Erwachsenen werden, die viel können.
Dass stark begrenzte Kinder sich jedoch mit den Anforderungen, die im späteren Leben an sie gestellt werden, besonders schwer tun, ist bekannt. Kinder, die wenig Gelegenheit bekommen, ihre eigenen Grenzen zu erweitern und die wenig Vertrauen von Seiten ihrer Bezugspersonen erfahren, haben es schwerer, ihre Flügel auszubreiten und selbständig ins Leben zu fliegen. Sie stehen weniger fest und stabil vor den Herausforderungen der Zukunft und sie trauen sich selbst oft auch nicht viel zu.
Was also tun, wenn euer Kindergarten demnächst auch einen Elternabend mit diesem schönen Titel ankündigt? Hier mein Rat: Macht euch Popcorn, lasst die Kinder eine Stunde länger aufbleiben als sonst und schiebt Michel aus Lönneberga in den DVD-Player – und kuscheln nicht vergessen.
Eure Daniela
Das wort Grenzen hat schon sowas abartiges. Wer zum teufel sind wir erwachsenen um anderen lebewesen zu sagen was sie dürfen und was sie nicht dürfen. Unser Bild vom kind ist dann eins das von oben herrab richtet und so tut als wären Erwachsene allwissende. Nur ihre Realität sei die wahre Realität.
Viel wichtiger ist es Rahmen des Vertrauens zu schaffen. Ich würde sagen Kinder brauche orientierung keine Grenzen. Der Unterschied: Wenn ich das Kind vor einer Gefahr schütze und Ihm sage die Herdplatte ist heiß, wenn du drauf fasst verbrennst du dich. Ist vorher schon so eine Vertrauensbasis geschaffen das das Kind in respekt vor mir und unserer Beziehung zueinander dies nicht tut. Kinder die dies nicht erfahren und statt orientierung Grenzen erfahren, werden warscheinlich solche Dinge trotzdem ausprobieren da ihnen die gewisse Vertrauensbasis in die Eltern fehlt.
Ich denke KiTas veranstallten solche Themenabende weil ihr Interesse ein anderes ist wie das einer Familie. Jedenfalls Staatliche KiTas. Sie sind drauf erpicht die Kinder zu gehorsamen kleinen Soldaten aus zu bilden die Obrigkeiten nie in frage stellen würden. Denn dies ist auch das Ziel der Schule. Der sogenannte Staat braucht keine Eigendenker, Selbstverwirklicher, Freigeister, kurz und knapp gesagt, er braucht Duckmäuse die nicht aufmucken. Das beginnt schon in Kinderkrippen. Ich habe als Erzieherin miterlebt wies in staatlichen Krippen und Kindergärten zu geht. Da möchte man nicht mal als Erwachsener sein, dann noch als Kind.
Liebe Daniela, inhaltlich stimme ich dir völlig zu. Was mich bei solchen Sätzen immer beschäftigt, ist, wie ich darauf reagieren soll. Denn wenn solche Sätze fallen, will man damit ja vor allem eine Position markieren. Im Grunde sind das ja Narrative und gar keine Argumente. Mit Argumenten zu antworten macht daher auch nur begrenzt Sinn. Die Argumente braucht man nur, um seine eigene Position für sich zu klären. Und für den Fall, das sich wirklich eine ernsthafte, mehr oder weniger offene Diskussion ergibt. Im Alltag brauche ich hingegen vor allem ein Narrativ, das meine Position erzählt/erklärt. Und das möglichst knackig. Hab jetzt keins parat, aber ich denke drüber nach…
Huch, dass ist ja wirklich ein ziemlich reisserischer Slogan und bringt mir gleich zum Kopfschütteln. Ängste schuren sich da sicher auch wie von allein, sehe ich wie du. Wenn das Kind das jetzt darf, dann bin ich später Schuld, wenn es als Erwachsener nichts kann :/
Und bei solchen Sätzen frage ich mich aber auch oft, was wär denn aus mir für ein Erwachsener geworden, wenn ich als Kind nicht soviel Freiheit gehabt hätte. Ich bin sicher meiner Mama war das nicht so von Herzen recht, dass ich auf jeden Baum rauf bin. Immer Schuss den Berg runter und dann gleich nochmal. Viele meiner Freunde durften das nicht. Und oh Überraschung aus uns allen ist etwas geworden.
Liebe Grüße
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