Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. (Hesekiel 36,26)
Das neue Jahr begann damit, dass ich mich extrem verkatert fühlte. Das lag nicht etwa an einer zu exzessiven Feier am Vortag oder gar dem übermäßigem Genuss von Alkohol (ich glaube, ich habe es auf etwa 0,2 l Weißwein gebracht), sondern an einer fetten Erkältung, die sich um meinen Kopf herum festgesetzt hatte, zu wenig Schlaf und allgemeiner Kollerstimmung sofort nach dem Aufwachen.
Die bittere Einsicht, die ich an diesem Morgen hatte war, dass wir uns zwar irgendwie auf einem Weg befinden, aber meilenweit von unserem Ziel entfernt sind. Theoretisch weiß ich viel darüber, wie man sich von alten Glaubensätzen im Umgang mit seinen Kindern befreit und wie man neue Wege geht, die sich letztlich für alle gut anfühlen können. Die praktische Umsetzung erscheint mir an manchen Tagen wie ein Kinderspiel. Dann laufe ich federleicht durch die Gegend und freue mich an unserem Familienleben. Doch dann gibt es die anderen Tage – und lasst euch gesagt sein, die gibt es häufig. Da geht auf einmal gar nichts. Da fehlt es mir schon beim Aufwachen an allem. An Empathie, an Zugang zu meinen eigenen Gefühlen, an Geduld, an Bereitschaft mich auf irgendwas einzulassen und dann klopfen sie an, die alten Glaubensätze. Dann falle ich in Muster zurück, die ich nicht haben will und die ich für nicht gesund halte. Dann meckere ich nicht nur, sondern bin richtig unfair, hart und selbstgerecht. Dann hat mein Mund Drohungen, messerscharfe Sätze oder gar Strafen ausgesprochen, noch ehe mein Kopf richtig darüber nachgedacht hat und mein Herz, das hat in dieser Konstellation meistens Sendepause. Es scheint, als sei es in diesen Momenten nicht da. Doch an diese Neujahrsmorgen hatte ich ein anderes Bild im Kopf, als ich über mein eigenes Verhalten nachdachte. Es war das Bild eines versteinerten Herzens.
Meine Gedanken blieben bei der Predigt zum Silvesterabend hängen. Es ging – selbstverständlich – um die Jahreslosung für 2017. Unser Pfarrer hatte einen herzförmigen Stein dabei. Ein Herz aus Stein eben.
Steinhart können unsere Herzen in vielen Situationen werden. Auch – und oft gerade – im Umgang mit den Menschen, die wir am meisten lieben. Im alltäglichen Kontakt mit unseren Kindern, wenn wir weich und offen sein wollen, sind wir in Wirklichkeit oft versteinert, hartherzig, wenig einfühlsam. Unsere Herzen sind irgendwann fest geworden. Fest von zu vielen kleinen Verletzungen, die wir selbst erfahren haben, als unsere Seelen noch ganz zart waren.
Wir alle, die heutige Elterngeneration, wir sind nicht mehr in einer ganz schlimmen Zeit aufgewachsen. Die meisten von uns wurden bereits bei Eltern groß, die es irgendwie besser machen wollten. Viele von uns hatten das Glück, bei Lehrern und Erziehern zu landen, die nicht mehr nur keinen Rohrstock dabei hatten, weil es verboten war, sondern auch, weil sie Gewalt als Mittel der Erziehung ablehnten. Und doch haben wir viel zu viel davon erlebt. Nicht körperlich, wenn wir Glück hatten, aber seelisch. Es waren Sätze, die sich tief in unsere Herzen eingebrannt hatten. Sätze, die uns vor allem eins sagen wollten – das wir falsch sind. Zu laut – oder zu leise. Zu weinerlich – oder zu aggressiv. Zu langsam – oder zu schnell. Nicht genügend, sondern “immer” falsch, weil wir “nie” aufräumen, für die Schule lernen, auf unsere Eltern hören, uns Mühe geben, die Wahrheit sagen.
Wir haben Beziehungsarmut erlebt – Strafen oder “Konsequenzen”, statt einer offenen Ansprache. Wir haben gelernt, dass es richtige und falsche Gefühle gibt. Dinge, die wir fühlen dürfen und Dinge, für die wir uns schämen sollten. Die falschen Gefühle, die durften fortan keinen Platz haben – und so sind sie für uns oft nicht greifbar. Weggesperrt haben wir sie, unsere Wut oder unsere Trauer, unseren Neid, unsere Angst, unser Bedürfnis nach Zuneigung, danach, gesehen zu werden.Weggesperrt, das sind sie bis heute. Nur selten nehmen wir sie bei uns selbst wahr und wenn wir sie bei anderen spüren, können wir damit nicht umgehen. Deshalb macht uns die Wut unserer Kinder so wütend, wollen wir ihre Trauer herunterspielen, können wir ihren Neid nicht ertragen oder versuchen wir, ihnen, ihre Angst auszureden.
Unsere Eltern wollten es besser machen – und das haben sie, in ganz vielen Bereichen. Doch auch auf ihnen lasteten viele alte, tonnenschwere Glaubenssätze. Demütigen, körperliche Strafen und tiefe Verletzungen aus Zeiten, in denen die Integrität von Menschen nicht zählte. Sie selbst wurden von einer Generation erzogen, die Schrecken und Grausamkeiten erlebt hatten, die wir uns kaum noch vorstellen konnten. Einer Generation, der man eingeredet hatte, dass kindliche Gefühle keine Rolle spielen durften. Von einer Generation, die dazu angehalten wurde, hartherzige und starke Menschen für ein großes Ziel zu produzieren.
Manche Glaubenssätze halten sich hartnäckiger als andere und besonders in Fragen der Kindererziehung scheinen wir doch noch sehr an alten Ideen zu hängen. Das muss nicht verwundern, wenn man sich vor Augen führt, dass das Standardwerk zur Kindererziehung aus dem 3.Reich noch bis in die 1980er Jahre in Deutschland verkauft wurde und somit die Vorstellungen der Eltern beeinflusste. So gesehen haben wir innerhalb von drei Generationen einen riesigen Sprung gemacht – und merken doch immer wieder, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben – das unsere Herzen noch immer gestern sind von dem, was einmal für richtig gehalten wurde und was einfach nicht aus den Köpfen verschwinden will.
Wenn ich mein eigenes Herz anschaue und all die Härte sehe, die ich manchmal daran finden kann, dann tröstet und stärkt es mich, dass Gott uns ein neues Herz schenken will und einen neuen Geist in uns legen möchte. Ich brauche das – in vielen Bereichen meines Lebens – aber gerade auch, wenn es um den Umgang mit unseren Kindern geht, denn Tage wie der Neujahrstag zeigen mir immer wieder, dass ich es allein nicht schaffe, neue Wege zu gehen und Altes loszulassen.