Kennt ihr Verlustängste bei Kindern? Ich bin kürzlich damit konfrontiert worden. Dabei begann alles ganz harmlos. Es war ein wunderschöner Vormittag: ein langes Frühstück mit einer Freundin. Endlich mal wieder Zeit für gute, intensive Gespräche. Die Uhrzeit hatten wir ein bisschen aus dem Blick verloren und so waren es am Ende nur noch 10 Minuten, bis das Kindergartenkind abgeholt werden musste. Normalerweise wäre es zu schaffen gewesen, doch dann kam eins zum anderen: eine volle Windel beim Kleinkind und die anschließende Weigerung, sich anzuziehen. Ein LKW, der die Straße blockierte, ein auswärtiges Auto vor mir, dass mit 30 durch die 70er Zone fuhr – und so schaffte ich es nicht. Mit knapp 10 minütiger Verspätung parkte ich vor der Kita und stürmte rein. Bis dahin war ich recht ruhig gewesen. Die Vorschülerin weiß, dass ich sie abhole und dass ich manchmal etwas knapp komme . Sie wird fertig angezogen dasitzen und warten und vielleicht ein bisschen schimpfen.
Doch es war ganz anders. Heftig schluchzend saß sie auf dem Schoß ihrer Erzieherin und klammerte sich dann sofort weinend an mich. Sie dachte, ich würde nicht kommen. Zuerst war ich ein bisschen ratlos über diese Reaktion, doch als ich im Auto noch länger mit ihr sprach, dämmerte es mir.
Ich dachte, dir sei ein Unfall passiert.
Sie hatte wieder einen Schub gemacht. Aus dem kindlich naiven Glauben Mama ist unbesiegbar/unsterblich ist das Bewusstsein geworden, dass auch Mamas und Papas etwas passieren kann. Dieses Wissen kann auf verschiedene Arten entstehen. Manchmal bekommen Kinder im Bekannten- oder Freundeskreis eine solche Tragödie mit. Manchmal ist ein anderer naher Angehöriger verstorben und die Kinder haben begonnen, Fragen zu stellen. Manchmal entwickeln sie sich aber auch einfach weiter und setzen Dinge miteinander in Verbindung, die vorher keine Bedeutung für sie hatten. Der Verlust der Eltern, besonders der Mutter, kommt in vielen alten, aber auch noch in erschreckend vielen modernen Kindergeschichten vor. Oft hat es in diesen Erzählungen den Eindruck, als mache erst dieses Aufwachsen als Waise die Kindheit dieser Kinder zu dem, was sie war und als wuchsen sie gerade in dieser Situation zu dem heran, was sie sind, als ermögliche ihnen dieser Verlust die Freiheit und das Abenteuer, den eigenen Weg zu gehen. Wenn unsere Kinder klein sind, hinterfragen Kinder diese dramaturgischen Elemente nicht und setzen sie auch nicht mit ihrem Leben in Verbindung. Dass Elsa und Anna ihre Eltern verloren haben und fortan allein im einsamen Schloss leben mussten, nur von ein paar Dienern betreut, das hat nichts mit ihrem Leben zu tun. Doch irgendwann ändert sich das und die Kinder begreifen – das könnte auch meine eigene Geschichte sein. Sie identifizieren sich auf einmal nicht mehr nur mit der Freude und den Abenteuern ihrer Märchenfigur, sondern auch mit deren Schmerz. Wenn Mama dann zu spät zur Kita kommt, dann kann es genauso sein, wie es bei der Königin und dem König von Arendell war, die von einer Reise einfach nicht zurückkehrten.
Unsere Kinder machen so die Erfahrung mit einer neuen Art von Verlustängsten, die sich stark von denen, die Babys und Kleinkinder gerade abends und nachts erleben, unterscheiden.
Viele Eltern fragen sich, ob sie ihre Kinder vor solcherlei Erfahrungen schützen könnten, indem sie auf Märchen, in denen der Verlust von Eltern eine Rolle spielt, verzichten. Ich halte das nicht für den richtigen Weg.
Unsere Kinder werden früher oder später begreifen, dass auch wir nicht unsterblich sind. Dass wir nicht sicherer sind, als jeder andere Mensch auf dieser Welt, nur weil wir ihre Eltern sind. Wir können sie vor dieser Erkenntnis nicht bewahren, wir können ihnen nur zur Seite stehen.
Wichtig ist, dass wir ihnen keine falschen Versprechungen machen. Wir können ihnen nicht erzählen, dass uns nichts passieren kann, weil es schlicht nicht wahr ist.
Auch sollten wir die Ängste der Kinder nicht herunterspielen. Sie sind da und werden von ihnen als sehr real und sehr bedrückend erlebt. Was sie nun brauchen, ist unser Verständnis und unseren Trost. Wir können die Kinder fragen, was genau sie denn befürchten, was die Kinder aussprechen dürfen, verliert ein Stück seines Schreckens. Wir können sie stärken, indem wir ihnen zeigen, dass wir für sie da sind. Wir können mit ihnen beten und ihnen so zeigen, dass auch Gott für uns und sie da sein will.
Wir können Verlässlichkeit bieten. Was mir an dem einen Mittag passiert ist, sollte normalerweise nicht passieren. Wir sollten da sein, wenn unsere Kinder uns erwarten. Sie sollten mit dem Vertrauen aufwachsen, sich auf uns verlassen zu können. Aber wir wissen selbst – manches haben wir nicht in der Hand und ab und zu verspäten wir uns. Für die Kinder ist es hilfreich, wenn man ihnen möglichst verständlich und genau erklärt, warum wir zu spät waren. Ich habe meinem Kind die Stelle gezeigt, an der der LKW stand und mit ihr auch nochmal darüber gesprochen, dass es ja manchmal vorkommt, dass das Kleinkind genau in einem solchen Moment noch eine volle Windel hat, wenn wir weg wollen. Wenn ich mich das nächste Mal verspäte, hat sie nun ein paar mögliche Erklärungen, die sie sich vorstellen kann und die sie begreifen kann.
Die Verlustängste unserer Kinder sind für uns manchmal schwer aushaltbar. Zum einen ist es nicht schön, die eigenen Kinder leiden zu sehen. Zum anderen erinnern sie uns aber eben auch an unsere eigene Sterblichkeit – und sind wir ehrlich – es ist der Albtraum einer jeden Mutter, die Kinder nicht ins Leben begleiten zu dürfen. Es ist ein Gedanke, den wir möglichst weit von uns weg haben wollen, er macht nicht nur unseren Kindern Angst, sondern auch uns. Und doch müssen wir uns dem stellen. Die Ängste unserer Kinder sind oft schon einen Moment später vergessen – und kehren doch immer wieder. In unterschiedlichen Ausprägungen begleiten sie sie vom Baby- bis ins Erwachsenenalter (die berlinmittemom schrieb kürzlich über Verlustängste bei Grundschülern). Wir können sie ihnen nicht nehmen, wir können ihnen nur helfen, damit gut umzugehen – indem wir ernst nehmen, ihnen zuhören, ihnen Halt geben, ihnen zeigen, dass sie Menschen haben, die immer für sie da sind.
Unsere eigenen Ängste wollen auch gesehen werden – statt sie wegzuschieben können wir ihnen ab und zu tief in die Augen sehen und ihnen sagen, dass wir wissen, dass wir da sind – und dass wir jetzt trotzdem weiterleben und weiterlieben.