„Mama, ich habe gehört, es gibt jetzt neue Mörder!“
Bis zu diesem Satz war es ein Mittagessen wie jedes andere gewesen – umgeworfene Trinkbecher, die Diskussion darüber, ob eine Mahlzeit wohl eher vor oder eher nach dem Tischgebet startet und ein paar Geschichten aus dem Kindergarten und der Schule. Doch dann platzte eins meiner Kinder mit diesem Satz heraus.
„Sie sollen so aussehen, wie Clowns“
Wir besprechen viel von dem mit unseren Kindern, was in der Welt vor sich geht – auch die schlimmen Dinge. Die Erfahrung zeigt uns immer wieder, dass sich der Schrecken der Welt leider nicht verheimlichen lässt und dann ist es uns lieber, die Kinder erfahren von uns und in unseren Worten, was draußen passiert.
Die albernen Clowns hatten wir ausgespart, sie erschienen uns nicht wichtig genug und die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Kinder von diesem Trend etwas mitbekommen, eher gering. Wir hatten uns getäuscht und so musste ich erklären. Dass die Clowns keine Mörder sind. Dass sie einfach nur erschrecken wollen. Welcher grausame Film hinter der Verkleidung steckt, habe ich ausgespart. Wir haben versucht, gleichzeitig auf die Ängste der Kinder zu reagieren, als auch den Wert dieser Aktion möglichst gering zu halten. Diese Clowns sollen auch in den Köpfen unserer Kinder eine möglichst geringe Bedeutung haben. Mehr steht ihnen nicht zu.
Doch es passieren Dinge in der Welt, die bedeuten viel mehr. Als die erste große Welle von Bürgerkriegsflüchtlingen vor eineinhalb Jahren zu uns kam, mussten wir darüber reden, warum die Menschen ihre Heimat verlassen und was das bedeutet, im Krieg zu sein.
Als wir am 14. November letzten Jahres aufwachten, war ebenfalls klar, dass wir nicht schweigen konnten. Was in der Nacht zuvor in Paris passiert war, würden unsere Kinder früher oder später hören und sie sollten es von uns erfahren. Abgesehen davon war ich selbst so durch den Wind, dass sie gemerkt hätten, dass etwas nicht stimmt. Eine Mama, die trotz offensichtlicher emotionaler Ausnahmelage behauptet, alles sei in Ordnung, ist für Kinder beängstigender als die Wahrheit – die Wahrheit darüber, dass unsere Welt nicht nur gut ist.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass unsere Kinder gut aufnehmen können, was wir ihnen erzählen. Kinder im Vorschul- oder Grundschulalter begreifen schon eine Menge. Aber im Gegenteil zu uns haben sie einen festen Glauben an Gut und Böse und daran, dass das Gute immer gewinnt. Sie haben Vertrauen in ihre Bezugsmenschen im sie herum und in das System, in dem sie leben.
Als wir am Vorabend vor unserer Sommerurlaubsreise nervös durchs Haus wanderten und nicht wussten, ob wir uns einige Stunden später in die Nähe von München wagen konnten, mussten wir auch erklären. Erklären, dass dort jemand ist, der Menschen tötet. Jemand, von dem wir noch nicht wissen, wer er ist und warum er es tut. Jemand, der auch uns Angst macht. Wir erklärten auch, dass wir noch warten müssen und erst am nächsten Morgen entscheiden könnten, ob und wann wir nun fahren könnten. Aber gerade bei kleinen Kindern ist es wichtig, es nicht bei dieser Erklärung zu belassen. Kinder brauchen in solchen Situationen Halt – und sie brauchen Hoffnung. Sie brauchen Erwachsene, die zwar zu ihren Ängsten stehen, ihnen aber dennoch vermitteln, dass „die Guten“ die Situation unter Kontrolle haben. Die Polizei ist sich sehr sicher, sie haben das gut im Griff, erklärten wir. Sie sind ganz ruhig, haben überhaupt keine Angst und ganz bald wird es geklärt sein. Es ist schlimm, aber es wird wieder gut werden. Da sind Menschen, die sich kümmern – und da sind viel mehr gute Menschen, als böse. Menschen, die jetzt helfen. Menschen, die andere Menschen aufnehmen, um sie zu beschützen. Menschen, die Verletzte verarzten, Menschen, die andere Menschen trösten – und Menschen, die das, was da gerade passiert, beenden können.
Unsere Kinder haben das große Privileg, in einem Land und einer Zeit aufzuwachsen, in denen wir ihnen diese Hoffnung lassen dürfen, ohne sie damit zu sehr zu belügen. Viele andere Kinder auf der Welt haben dies nicht. Ihnen bleibt nur, wegzurennen, wenn sie können. Weil längst nicht mehr klar ist, wer gut oder böse ist und weil die Menschen, die noch helfen würden, nicht können oder sich nicht mehr trauen. Was das aus armen, kleinen Kinderseelen macht, mag ich mir am liebsten gar nicht vorstellen. Der Gedanke zerreißt mich.
Ich schreibe das alles, weil am Sonntag der Volkstrauertag ist. Der Tag, an dem wir den Opfern von Kriegen und Gewalt auf dieser Welt gedenken. Ein schwerer Tag und für uns (zum Glück) oft ein relativ abstrakter Tag. Unsere Gefallenen, für die wir Kränze an Gedenksteinen niederlegen, waren allenfalls noch unseren Großeltern persönlich bekannt. Trotz allem Wahnsinn leben wir derzeit noch immer in relativer Sicherheit. Den Schrecken dieser Welt würden wir gern ausblenden und oft schaffen wir es auch. Bis er uns einholt – in Form einer großen Menge an geflüchteten Menschen, in deren Gesichtern er geschrieben steht – oder in Form eines irgendwo willkürlich wütenden Bösen, dass uns auf einmal bedroht, mitten in unserem Alltag – mitten in unserem Leben. Ob wir wollen oder nicht – auch das ist Aufwachsen 2016. Unsere Welt ist nicht gut, sie war es nie und wir müssen Wege finden, auch mit unseren Kindern darüber zu reden. Wir müssen es schaffen, es ihnen zu erklären, ohne ihnen ihre Unbefangenheit zu nehmen, ohne dass Angst zu tief in ihre Herzen einsickert. Ohne dass sie das Vertrauen in das Gute verlieren. Wir müssen ehrlich sein und klar – und gleichzeitig stark und optimistisch.
Und wir müssen halten, trösten und ernst nehmen. Unsere Schlafzimmertür ist sowieso immer für unsere Kinder geöffnet. Doch in Nächten, wie denen nach Paris oder München, steht sie besonders weit offen und manchmal tapsen die kleinen Füßchen dann nicht erst nachts zu uns herüber, sondern wollen von Anfang an neben uns liegen. Sie brauchen uns, unsere Nähe, unsere Geborgenheit und unsere Sicherheit. Mitten im Wahnsinn dieser Welt müssen sie sich gehalten und aufgehoben wissen – und das ist neben Ehrlichkeit das zweite, was wir Eltern unseren Kindern schuldig sind.