War das nicht ein atemberaubender Mond gestern Abend? Ich war mit meinen beiden Großen noch im Auto unterwegs und dieser riesige, orangene Ball am Himmel, der so groß und so nah wirkte, verschlug uns schier die Sprache. Als wir vor unserem Haus angekommen waren, suchte ich gerade unsere Rucksäcke und Taschen zusammen und meine Kinder stiegen schon einmal aus und rannten um die Straßenecke – auf der Suche nach dem Mond. Leider hatten sie sich die falsche Ecke ausgesucht, doch das hatten sie noch nicht bemerkt. So standen sie suchend und diskutierend unter einer Laterne, als sich ihnen ein Auto näherte. Ich bekam nur mit, dass der Fahrer anhielt und meine Kinder ansprach. Ich wollte gerade wie eine Furie um die Ecke rennen und diesen Mann fragen, was ihm denn einfällt, einfach anzuhalten und kleine Kinder auf der Straße anzusprechen. In Gedanken sah ich mich schon den Vorfall bei der Polizei melden und auf Facebook posten und stellte mir das viral gehende Posting vor und die Hysterie, die es schüren würde. Zum Glück erkannte ich knapp vorher, dass der Autofahrer nur mein Nachbar war, der ebenfalls gerade mit seinen Kindern nach Hause kam. Ich dachte, die zwei seien allein hier, rief er mir zu, und wollte mal nachfragen, wo du bist. Alles gut, ich war nur noch am Auto, erklärte ich, wir wünschten uns einen schönen Abend und verschwanden in unsere Richtungen.
Wie wertvoll, dachte ich als erstes. Jemand, der meine Kinder kennt und sich wundert, wenn sie abends im Dunkeln allein an der Straßenecke stehen. Jemand, der nicht denkt, wird schon passen und weiterfährt oder gar „Die Olle da drüben kümmert sich ja mal wieder gar nicht um ihre Brut, aber mich geht’s ja nichts an.“ Nein, jemand der vorsichtshalber nachfragt und sich im Zweifel kümmern würde.
Moooooment mal, dachte ich als zweites. Was denkt der denn von mir? Glaubt der wirklich, ich würde meine Kinder abends im Dunkeln allein auf der Straße lassen? Wirke ich so verantwortungslos?
Naja, sagte mein Mann, du traust unseren Kindern ja schon auch immer mal was zu. Stimmt irgendwie, dachte ich. Es kommt schon gelegentlich vor, dass Außenstehende sich ans Herz greifen, während ich scheinbar tiefenentspannt dasitze, beispielsweise wenn mein Kleinkind auf dem Kletterturm der Nachbarn spielt. In Diskussionen im Internet über die Frage, wie viel und wie weit Schulkinder schon ohne Aufsicht unterwegs sein dürfen, bin ich meistens die Vertreterin des free-range parentings. Ich traue meinen Kindern altersangemessen zu, kleine Wege allein zu erledigen und sich frei in einem abgesteckten Rahmen zu bewegen.
Free-range parenting im Alltag
Ich bin keine Mama, die viel bespaßt. Wenn meine Kinder Spielbesuche haben, dann habe ich mir vorher kein Programm ausgedacht und sitze auch nicht dauernd daneben. Im Gegenteil, ich genieße die dadurch gewonnene Freizeit. Ich glaube an die Wichtigkeit von freiem, unangeleitetem Spiel. Ich glaube an den Wert von kreativer Langeweile und an die angeborene Fähigkeit von Kindern, freie Zeit in für sie sinnvoller Art zu nutzen.
Sie reagieren aber sehr gelassen, sagte mir die Lehrerin meines Kindes mal, die anderen Eltern haben anders reagiert. Sie hatte mir berichtet, dass eine bestimmte Sache besser hätte laufen können. Ja, bin ich, dachte ich. Ich glaube nämlich auch an die Lernfähigkeit meiner Kinder. Ich glaube daran, dass sie ihren Weg gehen werden. Ich glaube an sie. Und ich bin ein bisschen arrogant: Ich kann mir nämlich einfach nicht vorstellen, dass Kinder von meinem Mann und mir wirklich dauerhaft und nachhaltig das Lernen verweigern und auf ihrem Lebensweg scheitern werden.
Du bist so cool, sagte ein Freund von mir neulich, als sich wieder eine dieser Situationen ergeben hatte. Das machte mich verlegen, denn eigentlich sieht es anders aus. Nein, ich bin nicht cool. Ich bin in Wahrheit sogar das Gegenteil. Ich sorge mich viel. Ich habe oft Angst. Ich würde am liebsten alles kontrollieren und der Gedanke, meine Kinder mit versteckten Piepern, Ortungssystemen und Schaumstoffpolsterungen auszustatten, erscheint mir oft reizvoll. Nur weiß ich, dass es nichts bringen würde. Mir nicht und ihnen nicht. Denn sie könnten sich trotzdem verletzten – sie würden sich sogar ganz sicher trotzdem verletzen. Sie würden auf die eine Stelle an ihrem Körper fallen, die nicht gepolstert war und das würde doppelt und dreifach wehtun. Sie würden den Pieper spätestens mit dreizehn der Nachbarskatze anheften und das Auto, in das sie dann steigen würden, würde vielleicht nicht nur einem netten Nachbarn gehören. Sie würden den Weg in die Welt, den ich ihnen verweigert hätte, gegen meinen Willen suchen – und würden straucheln, weil ich ihnen vorher die Aneignung eben dieser nicht ermöglicht hätte.
Die Wahrheit ist – oft muss ich mich zurück nehmen. Oft muss ich die Augen schließen und das Vertrauen aus der letzten Ecke meines Herzens hervorzerren, das Vertrauen in diese Kinder, die ich ins Leben begleite und das Vertrauen in Gott, der über alles ein Auge hat. Wenn ich das schaffe, dann kann ich sie loslassen. Dann kann ich mich umdrehen, während sie auf ihre Räder steigen und eine Runde um den Block drehen. Dann kann ich das Kleinkind klettern lassen, ohne mich daneben zu stellen, weil ich weiß, dass sie sicherer ist, wenn sie es allein machen darf.
Abwägen zwischen Freiheit und Sicherheit der Kinder
Doch manchmal, manchmal ist es wichtig, dass ich mich nicht zurücknehme. Manchmal muss ich für sie entscheiden, dass eine Sache trotz allem Gottvertrauen und allem Sorgen veratmen nicht gehen kann. So wie damals, als eins von ihnen ins Schwimmbad wollte. Mit gerade bestandenem Seepferdchen, ohne wirkliche Schwimmerfahrung, mit Betreuern, die kaum selbst erwachsen waren und die ich nicht kannte – und mit sechzig anderen Kindern. Damals habe ich gespürt, dass es nicht richtig wäre. Dass es fahrlässig wäre, das zu erlauben. Dass das keine Frage von Vertrauen und Loslassen ist, sondern eine Frage von Überforderung. Kindern etwas zu zutrauen heißt auch, ihre Grenzen zu kennen und zu wissen, wann sie an einem Schritt nicht wachsen würden, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit in Gefahr geraten könnten. Kindern etwas zutrauen heißt unterscheiden lernen, wann wir uns einem schlechten Bauchgefühl entgegenstellen müssen und unsere Kinder lassen dürfen und wann eben dieses schlechte Bauchgefühl ein wertvoller Ratgeber ist, der uns hilft, unsere Kinder im geeigneten Moment zu schützen.
Das afrikanische Dorf
Doch gerade wenn es darum geht, den Kindern bei der Aneignung des sozialen Raums behilflich zu sein und ihnen zu vertrauen, wenn sie allein um die Häuser ziehen, hilft noch etwas: Das berühmte Dorf. Das Dorf, dass es in einem Sprichwort braucht, um ein Kind großzuziehen. Dieser afrikanische Satz wird mittlerweile inflationär gebraucht und auch für Situationen, in denen er völlig unpassend ist (zum Beispiel als Argument für frühe Krippenbetreuung), aber hier passt er. Es fällt mir leicht, meine Kinder auch mal frei zu lassen, weil ich eine aufmerksame Umgebung habe. Da ist der Nachbar, der anhält und fragt. Da sind die Eltern von nebenan, die immer mal über die Hecke schauen, wenn sie wissen, dass mein Großer sich da draußen rumtreibt. Da ist das nette, ältere Ehepaar von gegenüber, das den Kindern gern ihren Garten überlässt. Da sind die Nachbarn von links, die merken, wenn das Kleinkind mal wieder abhauen will und die es sofort zurückbringen. Wir haben uns hier einen sozialen Raum geschaffen, in dem man uns kennt und in dem es irgendjemandem auffällt, wenn etwas anders ist, als sonst. Einen sozialen Raum, in dem wir achtsam und aufmerksam miteinander umgehen und nicht einfach wegschauen, wenn uns etwas merkwürdig vorkommt. Einen sozialen Raum, in dem wir uns vertrauen und in dem unsere Kinder wachsen dürfen – und frei sein.